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14 Tage biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 14 Tage

Das persönliche Trauma? 

Ja. Deswegen wollte ich ja mit dir reden, damit ich mich selbst nicht traumatisieren muss. Das ist aus meiner Perspektive die bessere Lösung. Verstehst du das? Wenn sich alle traumatisieren lassen, wird es keine Berichterstattung mehr geben, oder ist das falsch?

Nein, das ist richtig.

Das eine ist der Versuch, eine Begegnung herzustellen, und wir beide leben nach der Begegnung noch. Wir begeben uns nicht in Todesgefahr und ich versuche nachher, darüber zu schreiben.

Über den Schmerz? 

Ja?

Kennst du das Sprichwort: „Der Wohlgenährte glaubt dem Hungrigen nicht“? Ja?

Die Leute in der Schweiz sind wirklich wunderbar. Das Leben hier ist grossartig. Es gibt geistig gesunde, gebildete und schöne Menschen. Aber ihr habt echt keine Ahnung, in der Schweiz gab es keine Sowjetunion.

Ja?

Ihr wisst nicht, was eine hundertprozentige Bedrohung ist. 

Ihr wisst nicht, was es heisst, verletzt zu werden oder durch eine Explosion zu sterben. Ich dachte am Anfang auch, das wird schnell enden. Eine oder zwei Wochen … Ich habe mich auch geweigert, daran zu glauben, dass es in einer modernen Welt möglich ist, solche Kriege zu führen. 

Meine Reise begann am 24. Februar um 05:00 Uhr in Krywyj Rih. Es hiess, Russland habe eine Sonderoperation begonnen. Ich habe in diesem Moment an keinen einzigen Politiker gedacht. Ich hatte nur Gedanken für meine Kinder. Meine Reise begann mit zwei schrecklichen Explosionen. 

Das Wichtigste in diesem Moment war für mich, die Hände meiner Kinder nicht mehr loszulassen, und wahrscheinlich der Erste-Hilfe-Koffer, ein paar Dokumente und eben die Hände meiner Kinder.

Nach ein paar Wochen ziehe ich nach Uschgorod. Es geschah alles auf wundersame Weise. Ich war mit einer Gruppe ukrainischer Ikonenmaler unterwegs. Die waren alle ziemlich prorussisch. Ich musste in dieser Gruppe deutlich Position beziehen. 

Ich staunte über meine Tapferkeit, meine kalte Vernunft, meine Stärke, meine Willenskraft. 

Ich staunte über meine Besonnenheit, meinen kalten Geist, die Furchtlosigkeit, den Mut.

Im Internet fand ich eine Anzeige, dass die Schweiz Flüchtlinge aus der Ukraine in Familien unterbringe. Die Ersten, die geantwortet haben, waren Luc und Alessandra. Ich erinnere mich nicht mehr an die Nachnamen. Entschuldigung. Das war meine Reise zu völlig fremden Menschen, ohne Sprachkenntnisse, mit zwei Kindern im Arm. So habe ich erfahren, wie es ist, ins Nirgendwo zu springen. Ich wurde aufgefangen und wir wurden wie Verwandte akzeptiert. Ich bin sehr dankbar. Auch die Nachbarn sind freundlich und schön. Eine Nachbarin hat vier Hunde, ein Nachbar arbeitet im Coop. Alle sind freundliche Menschen. Sehr.

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