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28 Wochen biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 28 Wochen

Können wir nicht einfach ein freundliches Gespräch führen? Mir fehlt der Austausch. Du stellst mir immer nur Fragen zum Krieg. Ich möchte einfach nur über Blumen, über die Natur, über Bäume reden, über alles ausser den Krieg. Erzähl doch etwas aus der Primarschule von einem Mädchen, das du mochtest. Bitte erzähl etwas aus deinem behüteten, langweiligen Leben.

Ich brauche das. Jemand, der völlig naiv von seiner Kindheit in einem vom Krieg unberührten Land erzählt. Von einem Land, in dem es nie einen Krieg gegeben hat. 

Also erzähle ich dir etwas von Monica Rocco. Sie kam in der dritten Klasse der Grundschule neu in unsere Klasse. Sie kam aus Sizilien. Der Lehrer setzte uns auf dieselbe Bank, er traute mir die nötige integrative Neugierde zu. Monica konnte unglaublich gut zeichnen. Ich sass einfach nur noch neben ihr und sie zeichnete für mich. Und ich schaute Monica an und dann zum Fenster raus und ab und zu schrieb ich ein deutsches Wort in ihre Zeichnung hinein. Sie hatte ganz lockiges Haar, kastanienfarbig oder schwarz. Ich weiss nicht mehr, wie lange das gedauert hat, viele Monate. Ich lernte von Monica zeichnen, ganz neue Landschaften, Monica lernte von mir Worte und Sätze. Vor fünf Jahren habe ich mal versucht, Monica mithilfe von Google zu finden. Ich habe nichts gefunden und wurde ganz traurig. Monica hätte mir immer Lasagne gekocht.

Mit Monica wäre ich oft schwimmen gegangen. 

Monica konnte am besten zeichnen. 

Sie zeichnete am liebsten Tannenwälder. 

Leider ist Monica zurück nach Italien gezogen. 

Ich kann für dich weinen, das kann ich gut. Ich kann einfach sieben Sekunden lang weinen. Oder vierzehn Minuten. Oder achtundzwanzig Tage. Das sind keine Emotionen mehr, das sind nur Tränen. Ich kann meine Tränen mit dir teilen, magst du das? Ich habe keine Emotionen mehr, nur noch diese Kälte habe ich im Kopf und im Herzen, höchstwahrscheinlich habe ich im Herzen und im Kopf die gleiche Kälte. 

Ich dachte in erster Linie an Präsident Wolodymyr Selenskyj und an den Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj. Na ja, bis zu einem gewissen Grad war ich froh, dass diese Leute … na ja, ich weiss nicht, ehrlich gesagt, es ist alles sehr schlimm. Aber das sind die beiden, an die ich gedacht habe.

Der General sagte: „Das Wichtigste, das wir fast wie eine Religion praktizieren, ist, dass die Russen und alle anderen Feinde getötet werden müssen, einfach getötet werden müssen, und vor allem, dass wir keine Angst davor haben sollten, dies zu tun.“

Kann ich eine Pause haben?

Klar. Möchtest du etwas trinken?

Kaffee wäre gut …

Welche Territorien gehen wieder an die Ukraine zurück? Alle? Ein Teil davon? Wann? Wie sehen dann die Grenzen aus? Gibt es Gebiete, die dann niemandem mehr gehören? Sollen da dann Friedenstruppen hin?

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