Kategorien
56 Wochen biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 56 Wochen

Wenn es einen Wettbewerb zwischen verschiedenen politischen Systemen gibt, kann es passieren, dass sich schlechte politische Systeme einfach selbst beseitigten, hast du dir das schon mal überlegt?

Natürlich, natürlich ist es besser, alles Negative auszuschliessen, aber wir reden da trotz allem von meinem Land! Und möchtest du, dass ich in Kauf nehme, dass sich mein Land auflöst?

Ja, das ist ja nun wirklich ein sehr korrupter Haufen!

Wettbewerb zwischen verschiedenen politischen Systemen. 

Es kann passieren, dass sich schlechte politische Systeme selbst beseitigten, 

hast du dir das schon mal überlegt?

Natürlich, natürlich ist es besser, alles Negative auszuschliessen, 

aber wir reden da trotz allem von meinem Land! Ja. 

Ja, aber wieso man euch besser behandelt als einen Syrer, ich verstehe es nicht. Und hör auf, mich mit dieser zerkratzten Platte der Menschlichkeit zu nerven.

Du möchtest, dass ich in Kauf nehme, dass sich mein Land auflöst? Wegen politischer Systeme, die sich dann besser durchsetzen als andere?

Ja. Wir sehen es ja. Wir tun so, als würde die Ukraine zum schönen, zivilisierten, humanen Westen gehören. Und wenn ich mir anhöre, wie ihr mit Kindern im Vorschulalter umgeht und wie dich dein Mann behandelt, dann frage ich mich schon, wo da die Kultiviertheit sein soll.

Ich bin sehr zufrieden mit unserem Gespräch. Danke.

Ich bin sehr zufrieden mit unserem Gespräch, mit deinem fröhlichen Gesichtsausdruck, dass ich meine Tochter hier die ganze Zeit spielen lassen kann und dass du dich nicht aufregst, dass sie gleichzeitig mit mir ins Mikrofon redet. Aber der Gedanke, dass sich mein Land auflösen könnte, weil es nach deinen Massstäben zu schlecht ist, schockiert mich. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Du solltest in die Ukraine reisen, statt hier mit mir Interviews zu machen, dann würdest du alles viel besser verstehen. Du kannst in meine Heimatstadt reisen, nach Krywyj Rih, dort kannst du dich ausruhen. Du wirst auf jeden Fall von Bekannten von mir abgeholt, gefüttert und du wirst viel Zeit zum Ausruhen haben. Wenn es keine Sirenen gibt, kannst du bei sonnigem Wetter Spaziergänge machen. Haha. Und sonst sind die Luftschutzbunker die Hauptbeschäftigung. Und die sind bei Weitem nicht so bequem wie in der Schweiz. Du kannst dann die Ereignisse besser beschreiben. Das bringt nichts, wenn wir hier reden. Wenn du in einem Bunker sitzt und von allen Seiten beschossen wirst, dann erst wirst du gut darüber schreiben können. Tja, das ist schrecklich, natürlich, ich wünsche niemandem ein solches Erlebnis. Aber: „Einmal sehen ist besser als hundertmal hören!“ Wenn du Glück hast, hast du die Möglichkeit, unversehrt abzureisen. 

Ich werde dir auch mit einem Sprichwort antworten: „Um über jemanden zu schreiben, der Schnitzel mit Pommes frites isst, muss man weder ein Schnitzel noch Pommes frites sein.“ 

Ich denke, es sind verschiedene Ansätze: Ich kann versuchen, mich durch eine persönliche Begegnung mit dir berühren zu lassen. Ich kann versuchen zu spüren: mit meiner Haut, mit meinen Ohren, mit meinem Herz, mit allem, was mir zur Verfügung steht. Oder ich kann selbst dorthin gehen und die Lebensgefahr auf der eigenen Haut spüren und dann traumatisiert zurückkommen. Ich glaube, es sind wirklich zwei verschiedene Ansätze, wie man mit Betroffenheit umgehen kann. Ich finde beide gut.

Wer’s glaubt, wird selig. 

Wer’s sieht, glaubt’s. 

Sehen heisst Hören. 

Sehen heisst Glauben. 

Sehen ist Glauben.

Wann? Ich stelle all meinen Freunden dieselbe Frage: Wann, wann wird der Krieg enden, wann?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert