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7 Minuten biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 7 Minuten

Michael Stauffer – 7 Minuten

Mein Kind ist immer dabei. Es gibt keine Möglichkeit, richtig zu denken, 

ich bin immer mit dem Kind beschäftigt.

Es war Morgen, kurz vor dem Sonnenaufgang. Ich war im Schlafzimmer in der Stadt Krywyj Rih (Кривий Ріг). Ich war zu Hause, ich habe geschlafen, ich wurde durch eine Explosion geweckt. Es waren zwei Explosionen. Ich war bei mir zu Hause. In einem fünfstöckigen Gebäude. Ich bin wegen der Explosionen aufgewacht. Es war ein grosser Schock. 

Es gibt noch ganz viele andere Eindrücke, aber ich kann die nicht teilen. 

Wer denkt, dass man die teilen kann? 

Die kann man nicht teilen. 

Noch einmal die Frage, bitte. Entschuldigung, ich brauche eine Pause.

Es herrschte ein undefinierbarer Schmerz.

Es herrschte die absolute Angst. Die absolute Angst. 

Die Unfähigkeit, diese Ereignisse zu kontrollieren oder zu verändern. Das war die schockierende Realität, diese Explosionen. 

Und der Schock, der Schock. Mein Mann geriet in Panik. Das hat mich noch mehr verletzt, dass er nicht richtig funktioniert hat. Das war eine grosse Enttäuschung. Und andererseits freute ich mich darüber, es hat gezeigt, wie er wirklich ist.

Das muss ich dir jetzt sagen, ich lasse mich scheiden! Das ist der grösste Witz, mein Land ist im Krieg und ich bin im Krieg, alles ist im Krieg.

Ich habe sozusagen auch Krieg zu Hause. Es gibt also Krieg auf allen Seiten und an allen Fronten.

Mein Selbstvertrauen ist jetzt viel grösser. Es ist mir nicht mehr möglich, so zu leben. Es ist mir nicht mehr möglich, Unhöflichkeit und Grobheit zu tolerieren. 

Wenn ich ein Mann wäre, wäre ich in der Ukraine geblieben. Selbst wenn ich keine Kinder hätte, würde ich als Mann bleiben und in den Krieg ziehen. Ich bin dankbar, dass der Krieg das Wesen meines Mannes enthüllt hat.

Das meinst du wirklich, dass es besser wäre, wenn dein Mann in die Ukraine zurückkehren würde, um sein Vaterland zu beschützen?

Ich denke, es wäre besser, wenn es überhaupt keinen Krieg gäbe.

Ja, aber eben hast du behauptet: Dein Mann sollte in die Ukraine zurück.

Ja, und? Wir werden ja bombardiert, nicht du!

Ja, aber ich möchte dir sagen, dass, wenn ich dein Ehemann wäre, ich auch versucht hätte, mit dir und unserem gemeinsamen Kind in der ersten Minute oder Sekunde wegzulaufen. Ich hätte ebenfalls für kein Land der Welt auch nur einen Bruchteil einer Sekunde lang mein Leben riskiert. Natürlich sind wir nicht verheiratet … Ich möchte noch hinzufügen, dass ich die Schweiz niemals verteidigen würde, niemals in meinem Leben. 

Und ich würde niemandem Vorwürfe machen. Ich würde sagen: gut gemacht, wer gegangen ist. Und gut gemacht, wer geblieben ist. Jeder, der gegangen ist, möchte das Beste für seine Kinder, seine Familie. Keine Sirenen und keine Geräusche von Explosionen.

Es ist alles in schwarze Farbe getaucht. Nicht nur die Nacht ist schwarz, auch der Morgen, der Sonnenaufgang. Die Vögel, der Himmel, die Wände meiner Wohnung, alle ist schwarz. Diese Farbe verblasst dann zu einem viel zu hellen Weiss, Grellweiss, Blitzweiss, Zuckweiss, dann wird wieder alles schwarz, dann gelb.

Es gibt keine Farben mehr, nur noch die Farbe Schwarz. Wenn es eine Form gäbe, dann ist sie in Bewegung, sie fliesst, eine fliessende, schwarze Form. 

Das ist alles sehr anstrengend und schwierig, Entschuldigung. Entschuldige bitte. Hast du einen Apfel? Der Krieg ist der Mangel an Form, das ist es. Danke, dass du gewartet hast. Krieg ist wie ein formloser Weltraum.

Krieg ist ein formloses Universum mit bedrohlicher Stille, Stille wie vor dem Ende der Welt. Die Stille.

Und man riecht nichts, keine stechenden Gerüche, nichts Beunruhigendes. Der Geruchssinn ist weg.

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