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7 Minuten biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 7 Minuten

Michael Stauffer – 7 Minuten

Mein Kind ist immer dabei. Es gibt keine Möglichkeit, richtig zu denken, 

ich bin immer mit dem Kind beschäftigt.

Es war Morgen, kurz vor dem Sonnenaufgang. Ich war im Schlafzimmer in der Stadt Krywyj Rih (Кривий Ріг). Ich war zu Hause, ich habe geschlafen, ich wurde durch eine Explosion geweckt. Es waren zwei Explosionen. Ich war bei mir zu Hause. In einem fünfstöckigen Gebäude. Ich bin wegen der Explosionen aufgewacht. Es war ein grosser Schock. 

Es gibt noch ganz viele andere Eindrücke, aber ich kann die nicht teilen. 

Wer denkt, dass man die teilen kann? 

Die kann man nicht teilen. 

Noch einmal die Frage, bitte. Entschuldigung, ich brauche eine Pause.

Es herrschte ein undefinierbarer Schmerz.

Es herrschte die absolute Angst. Die absolute Angst. 

Die Unfähigkeit, diese Ereignisse zu kontrollieren oder zu verändern. Das war die schockierende Realität, diese Explosionen. 

Und der Schock, der Schock. Mein Mann geriet in Panik. Das hat mich noch mehr verletzt, dass er nicht richtig funktioniert hat. Das war eine grosse Enttäuschung. Und andererseits freute ich mich darüber, es hat gezeigt, wie er wirklich ist.

Das muss ich dir jetzt sagen, ich lasse mich scheiden! Das ist der grösste Witz, mein Land ist im Krieg und ich bin im Krieg, alles ist im Krieg.

Ich habe sozusagen auch Krieg zu Hause. Es gibt also Krieg auf allen Seiten und an allen Fronten.

Mein Selbstvertrauen ist jetzt viel grösser. Es ist mir nicht mehr möglich, so zu leben. Es ist mir nicht mehr möglich, Unhöflichkeit und Grobheit zu tolerieren. 

Wenn ich ein Mann wäre, wäre ich in der Ukraine geblieben. Selbst wenn ich keine Kinder hätte, würde ich als Mann bleiben und in den Krieg ziehen. Ich bin dankbar, dass der Krieg das Wesen meines Mannes enthüllt hat.

Das meinst du wirklich, dass es besser wäre, wenn dein Mann in die Ukraine zurückkehren würde, um sein Vaterland zu beschützen?

Ich denke, es wäre besser, wenn es überhaupt keinen Krieg gäbe.

Ja, aber eben hast du behauptet: Dein Mann sollte in die Ukraine zurück.

Ja, und? Wir werden ja bombardiert, nicht du!

Ja, aber ich möchte dir sagen, dass, wenn ich dein Ehemann wäre, ich auch versucht hätte, mit dir und unserem gemeinsamen Kind in der ersten Minute oder Sekunde wegzulaufen. Ich hätte ebenfalls für kein Land der Welt auch nur einen Bruchteil einer Sekunde lang mein Leben riskiert. Natürlich sind wir nicht verheiratet … Ich möchte noch hinzufügen, dass ich die Schweiz niemals verteidigen würde, niemals in meinem Leben. 

Und ich würde niemandem Vorwürfe machen. Ich würde sagen: gut gemacht, wer gegangen ist. Und gut gemacht, wer geblieben ist. Jeder, der gegangen ist, möchte das Beste für seine Kinder, seine Familie. Keine Sirenen und keine Geräusche von Explosionen.

Es ist alles in schwarze Farbe getaucht. Nicht nur die Nacht ist schwarz, auch der Morgen, der Sonnenaufgang. Die Vögel, der Himmel, die Wände meiner Wohnung, alle ist schwarz. Diese Farbe verblasst dann zu einem viel zu hellen Weiss, Grellweiss, Blitzweiss, Zuckweiss, dann wird wieder alles schwarz, dann gelb.

Es gibt keine Farben mehr, nur noch die Farbe Schwarz. Wenn es eine Form gäbe, dann ist sie in Bewegung, sie fliesst, eine fliessende, schwarze Form. 

Das ist alles sehr anstrengend und schwierig, Entschuldigung. Entschuldige bitte. Hast du einen Apfel? Der Krieg ist der Mangel an Form, das ist es. Danke, dass du gewartet hast. Krieg ist wie ein formloser Weltraum.

Krieg ist ein formloses Universum mit bedrohlicher Stille, Stille wie vor dem Ende der Welt. Die Stille.

Und man riecht nichts, keine stechenden Gerüche, nichts Beunruhigendes. Der Geruchssinn ist weg.

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14 Tage biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 14 Tage

Das persönliche Trauma? 

Ja. Deswegen wollte ich ja mit dir reden, damit ich mich selbst nicht traumatisieren muss. Das ist aus meiner Perspektive die bessere Lösung. Verstehst du das? Wenn sich alle traumatisieren lassen, wird es keine Berichterstattung mehr geben, oder ist das falsch?

Nein, das ist richtig.

Das eine ist der Versuch, eine Begegnung herzustellen, und wir beide leben nach der Begegnung noch. Wir begeben uns nicht in Todesgefahr und ich versuche nachher, darüber zu schreiben.

Über den Schmerz? 

Ja?

Kennst du das Sprichwort: „Der Wohlgenährte glaubt dem Hungrigen nicht“? Ja?

Die Leute in der Schweiz sind wirklich wunderbar. Das Leben hier ist grossartig. Es gibt geistig gesunde, gebildete und schöne Menschen. Aber ihr habt echt keine Ahnung, in der Schweiz gab es keine Sowjetunion.

Ja?

Ihr wisst nicht, was eine hundertprozentige Bedrohung ist. 

Ihr wisst nicht, was es heisst, verletzt zu werden oder durch eine Explosion zu sterben. Ich dachte am Anfang auch, das wird schnell enden. Eine oder zwei Wochen … Ich habe mich auch geweigert, daran zu glauben, dass es in einer modernen Welt möglich ist, solche Kriege zu führen. 

Meine Reise begann am 24. Februar um 05:00 Uhr in Krywyj Rih. Es hiess, Russland habe eine Sonderoperation begonnen. Ich habe in diesem Moment an keinen einzigen Politiker gedacht. Ich hatte nur Gedanken für meine Kinder. Meine Reise begann mit zwei schrecklichen Explosionen. 

Das Wichtigste in diesem Moment war für mich, die Hände meiner Kinder nicht mehr loszulassen, und wahrscheinlich der Erste-Hilfe-Koffer, ein paar Dokumente und eben die Hände meiner Kinder.

Nach ein paar Wochen ziehe ich nach Uschgorod. Es geschah alles auf wundersame Weise. Ich war mit einer Gruppe ukrainischer Ikonenmaler unterwegs. Die waren alle ziemlich prorussisch. Ich musste in dieser Gruppe deutlich Position beziehen. 

Ich staunte über meine Tapferkeit, meine kalte Vernunft, meine Stärke, meine Willenskraft. 

Ich staunte über meine Besonnenheit, meinen kalten Geist, die Furchtlosigkeit, den Mut.

Im Internet fand ich eine Anzeige, dass die Schweiz Flüchtlinge aus der Ukraine in Familien unterbringe. Die Ersten, die geantwortet haben, waren Luc und Alessandra. Ich erinnere mich nicht mehr an die Nachnamen. Entschuldigung. Das war meine Reise zu völlig fremden Menschen, ohne Sprachkenntnisse, mit zwei Kindern im Arm. So habe ich erfahren, wie es ist, ins Nirgendwo zu springen. Ich wurde aufgefangen und wir wurden wie Verwandte akzeptiert. Ich bin sehr dankbar. Auch die Nachbarn sind freundlich und schön. Eine Nachbarin hat vier Hunde, ein Nachbar arbeitet im Coop. Alle sind freundliche Menschen. Sehr.

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28 Wochen biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 28 Wochen

Können wir nicht einfach ein freundliches Gespräch führen? Mir fehlt der Austausch. Du stellst mir immer nur Fragen zum Krieg. Ich möchte einfach nur über Blumen, über die Natur, über Bäume reden, über alles ausser den Krieg. Erzähl doch etwas aus der Primarschule von einem Mädchen, das du mochtest. Bitte erzähl etwas aus deinem behüteten, langweiligen Leben.

Ich brauche das. Jemand, der völlig naiv von seiner Kindheit in einem vom Krieg unberührten Land erzählt. Von einem Land, in dem es nie einen Krieg gegeben hat. 

Also erzähle ich dir etwas von Monica Rocco. Sie kam in der dritten Klasse der Grundschule neu in unsere Klasse. Sie kam aus Sizilien. Der Lehrer setzte uns auf dieselbe Bank, er traute mir die nötige integrative Neugierde zu. Monica konnte unglaublich gut zeichnen. Ich sass einfach nur noch neben ihr und sie zeichnete für mich. Und ich schaute Monica an und dann zum Fenster raus und ab und zu schrieb ich ein deutsches Wort in ihre Zeichnung hinein. Sie hatte ganz lockiges Haar, kastanienfarbig oder schwarz. Ich weiss nicht mehr, wie lange das gedauert hat, viele Monate. Ich lernte von Monica zeichnen, ganz neue Landschaften, Monica lernte von mir Worte und Sätze. Vor fünf Jahren habe ich mal versucht, Monica mithilfe von Google zu finden. Ich habe nichts gefunden und wurde ganz traurig. Monica hätte mir immer Lasagne gekocht.

Mit Monica wäre ich oft schwimmen gegangen. 

Monica konnte am besten zeichnen. 

Sie zeichnete am liebsten Tannenwälder. 

Leider ist Monica zurück nach Italien gezogen. 

Ich kann für dich weinen, das kann ich gut. Ich kann einfach sieben Sekunden lang weinen. Oder vierzehn Minuten. Oder achtundzwanzig Tage. Das sind keine Emotionen mehr, das sind nur Tränen. Ich kann meine Tränen mit dir teilen, magst du das? Ich habe keine Emotionen mehr, nur noch diese Kälte habe ich im Kopf und im Herzen, höchstwahrscheinlich habe ich im Herzen und im Kopf die gleiche Kälte. 

Ich dachte in erster Linie an Präsident Wolodymyr Selenskyj und an den Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj. Na ja, bis zu einem gewissen Grad war ich froh, dass diese Leute … na ja, ich weiss nicht, ehrlich gesagt, es ist alles sehr schlimm. Aber das sind die beiden, an die ich gedacht habe.

Der General sagte: „Das Wichtigste, das wir fast wie eine Religion praktizieren, ist, dass die Russen und alle anderen Feinde getötet werden müssen, einfach getötet werden müssen, und vor allem, dass wir keine Angst davor haben sollten, dies zu tun.“

Kann ich eine Pause haben?

Klar. Möchtest du etwas trinken?

Kaffee wäre gut …

Welche Territorien gehen wieder an die Ukraine zurück? Alle? Ein Teil davon? Wann? Wie sehen dann die Grenzen aus? Gibt es Gebiete, die dann niemandem mehr gehören? Sollen da dann Friedenstruppen hin?

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56 Wochen biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 56 Wochen

Wenn es einen Wettbewerb zwischen verschiedenen politischen Systemen gibt, kann es passieren, dass sich schlechte politische Systeme einfach selbst beseitigten, hast du dir das schon mal überlegt?

Natürlich, natürlich ist es besser, alles Negative auszuschliessen, aber wir reden da trotz allem von meinem Land! Und möchtest du, dass ich in Kauf nehme, dass sich mein Land auflöst?

Ja, das ist ja nun wirklich ein sehr korrupter Haufen!

Wettbewerb zwischen verschiedenen politischen Systemen. 

Es kann passieren, dass sich schlechte politische Systeme selbst beseitigten, 

hast du dir das schon mal überlegt?

Natürlich, natürlich ist es besser, alles Negative auszuschliessen, 

aber wir reden da trotz allem von meinem Land! Ja. 

Ja, aber wieso man euch besser behandelt als einen Syrer, ich verstehe es nicht. Und hör auf, mich mit dieser zerkratzten Platte der Menschlichkeit zu nerven.

Du möchtest, dass ich in Kauf nehme, dass sich mein Land auflöst? Wegen politischer Systeme, die sich dann besser durchsetzen als andere?

Ja. Wir sehen es ja. Wir tun so, als würde die Ukraine zum schönen, zivilisierten, humanen Westen gehören. Und wenn ich mir anhöre, wie ihr mit Kindern im Vorschulalter umgeht und wie dich dein Mann behandelt, dann frage ich mich schon, wo da die Kultiviertheit sein soll.

Ich bin sehr zufrieden mit unserem Gespräch. Danke.

Ich bin sehr zufrieden mit unserem Gespräch, mit deinem fröhlichen Gesichtsausdruck, dass ich meine Tochter hier die ganze Zeit spielen lassen kann und dass du dich nicht aufregst, dass sie gleichzeitig mit mir ins Mikrofon redet. Aber der Gedanke, dass sich mein Land auflösen könnte, weil es nach deinen Massstäben zu schlecht ist, schockiert mich. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Ich denke darüber nach, dass ich zurückkehren kann. 

Du solltest in die Ukraine reisen, statt hier mit mir Interviews zu machen, dann würdest du alles viel besser verstehen. Du kannst in meine Heimatstadt reisen, nach Krywyj Rih, dort kannst du dich ausruhen. Du wirst auf jeden Fall von Bekannten von mir abgeholt, gefüttert und du wirst viel Zeit zum Ausruhen haben. Wenn es keine Sirenen gibt, kannst du bei sonnigem Wetter Spaziergänge machen. Haha. Und sonst sind die Luftschutzbunker die Hauptbeschäftigung. Und die sind bei Weitem nicht so bequem wie in der Schweiz. Du kannst dann die Ereignisse besser beschreiben. Das bringt nichts, wenn wir hier reden. Wenn du in einem Bunker sitzt und von allen Seiten beschossen wirst, dann erst wirst du gut darüber schreiben können. Tja, das ist schrecklich, natürlich, ich wünsche niemandem ein solches Erlebnis. Aber: „Einmal sehen ist besser als hundertmal hören!“ Wenn du Glück hast, hast du die Möglichkeit, unversehrt abzureisen. 

Ich werde dir auch mit einem Sprichwort antworten: „Um über jemanden zu schreiben, der Schnitzel mit Pommes frites isst, muss man weder ein Schnitzel noch Pommes frites sein.“ 

Ich denke, es sind verschiedene Ansätze: Ich kann versuchen, mich durch eine persönliche Begegnung mit dir berühren zu lassen. Ich kann versuchen zu spüren: mit meiner Haut, mit meinen Ohren, mit meinem Herz, mit allem, was mir zur Verfügung steht. Oder ich kann selbst dorthin gehen und die Lebensgefahr auf der eigenen Haut spüren und dann traumatisiert zurückkommen. Ich glaube, es sind wirklich zwei verschiedene Ansätze, wie man mit Betroffenheit umgehen kann. Ich finde beide gut.

Wer’s glaubt, wird selig. 

Wer’s sieht, glaubt’s. 

Sehen heisst Hören. 

Sehen heisst Glauben. 

Sehen ist Glauben.

Wann? Ich stelle all meinen Freunden dieselbe Frage: Wann, wann wird der Krieg enden, wann?

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56 Monate biel/bienne Literatur

Michael Stauffer – 56 Monate

Höchstwahrscheinlich werde ich bei Kriegsende in ein Kloster ziehen, zusammen mit meinem Kind. Und wir werden dort nur noch schweigen. Ich finde es toll, mit Kindern Zeit zu verbringen. Es gibt dabei nichts Fremdes an Kindern. Die Erwachsenen sind die Fremden.

Das schlimmste Szenario für die Ukraine, was man sich vorstellen kann, keine Ahnung, so wie es jetzt ist. Ich werde zurückkehren und ich werde helfen, die Menschen wieder aufzubauen und alles zu korrigieren, was da schieflief. Das schlimmste Szenario für die Ukraine ist doch bereits passiert. Oder ginge es noch schlimmer?

Aber ich will auch hier sein. Mir gefällt es hier sehr, ich möchte noch mehr lernen, wachsen, mich weiterentwickeln. 

Ich bin bereit! Aber ich gehe erst nach Kriegsende zurück. Ich werde helfen, mein Land wieder aufzubauen. Ich möchte gerne über die Zukunft sprechen, die niemand kennt. 

Ich bin immer noch dieselbe Frau, ich bin kein neuer Mensch. Ich habe ein neues Zuhause in einem neuen Land, ich habe einen neuen Beruf. Ich werde Rehabilitationspsychologin sein, statt mich mit der Restaurierung von Ikonen zu beschäftigen.

Es ist ein bisschen anders, aber ich bin immer noch dieselbe Maria. Ich bin wie ein Kind, das wächst. Ein Kind in endlosem Wachstum, so komme ich mir vor.

Der Abzug aller russischen Truppen und die territoriale Integrität. Die Krim gehört wieder zur Ukraine. Das ist das optimistischste Szenario. Die Russen ziehen einfach stillschweigend ihre Truppen ab und hinterlassen die gesamte Ukraine so, wie sie vor 1991 war. Lass dies das einzige Szenario sein! Ich möchte keine anderen Szenarien erfinden.

«Ein hoch gewehter Rock für die Ewigkeit.» So würde ich das Denkmal zum Kriegsende nennen. Wie das Foto von Marilyn Monroe, als sie auf einem U-Bahn-Schacht steht und das Kleid von einem Windstoss angehoben wird. Alle Menschen der Ukraine können sich unter so einem Rock verstecken und sich vor Regen und Bomben schützen. Das ist es: Ein vielseitiger, universeller Unterschlupf, ein grosser Regenschirm, ein voluminöses Ding, das so gross ist wie die ganze Ukraine, eine Kuppel. So wie der Iron Dome der Israelis.

Es lohnt sich auf jeden Fall, die Ukraine zu reparieren. Der Optimismus ist grundsätzlich berechtigt. Aber vieles hängt von der Hilfe von aussen ab, von den Nachbarn, an die das Land grenzt. Wenn die Ukraine noch mehr in Richtung Europa rückt, wird es sicher besser sein. Und die Armee gehört dann zur NATO. 

Ich möchte einfach, dass alles friedlich gelöst wird. Oder lieb. Kann man sagen. Eine liebe Lösung des Konfliktes ist mein Wunsch. Ja, ganz lieb. Das ist möglich.

Es gibt aber ein paar Dinge, die müssen wirklich aufhören. In der Ukraine werden immer noch viele Kinder geschlagen. Im Kindergarten, in der eigenen Familie. Es kommt sehr, sehr schnell zu Schlägen. Viele Kinder machen bereits in der Kindheit traumatische Erfahrungen. Das macht sie jetzt vielleicht härter und sie können besser mit dem Krieg und den Kriegstraumata umgehen, aber dennoch sollte kein Kind so aufwachsen müssen.

Das wäre in der Schweiz inakzeptabel. Auch dass ein betrunkener Vater seine Familie verprügelt, bleibt nicht ungestraft, so etwas gibt es hier praktisch nicht. In der Ukraine gibt es das ständig. Und dennoch denke ich, dass alles repariert werden kann.

Ich werde in Kiew ein Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche eröffnen. Für alle, die während des Krieges gelitten haben. Mein Bruder Alexei wird die Buchhaltung führen. Ich werde aufräumen und die Blumen giessen. Es gibt ein grosses Aquarium im Empfangsbereich. Mit exotischen, bunten Fischen. Es gibt einen grossen, hellen Raum mit grossen Fenstern. Einen Raum, in dem es angenehm ist, sich aufzuhalten. 

Und ich weiss, ich muss aufpassen, dass ich nicht auf die korrupten Strukturen, die vor dem Krieg herrschten, zurückgreife, um mein Rehabilitationszentrum zu finanzieren. Ich muss jetzt schon anfangen, diese Struktur zu planen. Ich muss bereit sein, wenn die Wiederaufbau-Fonds anfangen, Rehabilitationszentren ihr Geld auszuschütten. 

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7 Minuten biel/bienne Literatur

Erika Do Nascimento – 7 Minuten

Als die erste Bombe fiel, oder als die erste Hand abdrückte, oder als die erste Kugel jemanden traf, oder als das erste Gebäude fiel, oder als der erste Mensch fiel, oder als die erste Explosion den Boden meiner Stadt traf, oder als die Russen einmarschierten,

oder als die Nacht, Nacht war, dunkel war,

oder als der erste Jet oder Panzer über die Luft, über den Boden unserer Stadt flog, fuhr, oder als das erste Kind verletzt wurde, oder als die Menschen, in ihrem Bett lagen, oder als sie nicht schlafen konnten, oder als sie in ihren Träumen wanderten,

lag ich auch in meinem rosa Bett, in meinem Zimmer, wo meine braunen Möbel standen, wo mein kleines Radio stand, in meinem violetten Pyjama, unter meiner weissen Decke, in der Wohnung meiner Eltern, meiner kleinen, zwei Monate alten Schwester und meinem Papagei Timoscha, der sprechen und fluchen konnte, auf Russisch und Ukrainisch.

Ich wachte von einem Bärentraum auf.

Der Bär rannte, um mich zu schnappen. Ich öffnete die Augen, zuckte zusammen, sah zuerst schwarz, weil es im Zimmer dunkel war. Ich wollte mich für die Schule anziehen. Jeans, Nikes, blaues T-Shirt. Farbige Federohrringe, Ketten. Grüner Nagellack. Gerade, als ich etwas von Celine Dion spielen wollte, klingelte mein Telefon. Es war Grossmutter, die zu viel Zeitung las und an das Böse glaubte.

Der Krieg hat begonnen, sagte sie.

Draussen knallte es.

Nach dem Anruf warf ich das Telefon, weit weg von mir, aus Angst, ich würde abgehört werden, oder es würde eine Explosion geben, oder was-weiss-ich, was diese Leute sich alles ausgedacht hatten.

Ich stellte mir sofort vor, wie uns die Decke über den Kopf fiel, hielt mich am Stuhl fest und fragte mich, ob es fest weh tun würde. Ob wir herausgezerrt werden würden. Oder ob niemand kommen würde und dies das Ende sei.

Dann ging ich zum Fenster.

Da war er, der grosse Bär. Mit den grossen Krallen. Bereit über Spitäler, über Restaurants, Tabakwarenläden, über Tankstellen, über Fussballfelder, Wohnungen, Wälder und Gärten zu stampfen. Drückte, mit seinen riesigen Tatzen, den grauen Asphalt, mit dem Müll, an den Rändern der Gehwege runter und machte ein Loch in den Boden, wo Leute reinfielen.

Sie fielen ins Loch, während sie träumten,

in der Nacht,

um nie wieder vom Traum zurückzukommen,

am Tag.

Ich stand auf, rannte ins Zimmer meiner Eltern, wo die kleine Schwester schlief. Ich rüttelte am Oberkörper meines Vaters, der fest in die Matratze gesunken lag, bis er die Augen aufmachte, so grün wie die Vorkriegszeiten.

Der Krieg hat begonnen, sagte ich.

Draussen ist der grosse rote Bär, sagte ich. Ich habe von ihm geträumt.

Auch Mutter wachte auf. Das kleine Baby schlief. Sie wird später keine Erinnerung mehr haben. Ich wünschte, ich wäre sie.

Mutter fragte, was den los sei, ich sagte, er ist draussen.

Wer?

Der Krieg.

Er ist draussen und klettert durch die Fenster, er bricht in Türen ein, schleicht sich in die Zimmer, in die Duschen, hinunter in den Abfluss, in die Badewannen, ins Wasser, in die Stuben, in den Fernseher, in die Büros der Stadt, verbrennt die Vergangenheit, in die Küchen, in das Essen, in die Münder, in die Körper, durch die Haut, in die Organe und ätzt. Niemand erwartete ihn und doch sah ihn jeder kommen.

Putin, der SCHRECKLICHE.

Alles für nichts, sagte Mutter, die Tage davor meditiert hatte. Tausendundein Mantra, hatten ich und sie aufgesagt, um den Krieg von unserer Stadt, unserem Land fernzuhalten. Fast wären wir selbst zu Buddhas aufgestiegen. So viele Rezitationen, so viele Namen von Göttern auswendig gelernt, dass ich fast meinen eigenen vergessen hätte.

Sag sowas nicht, sagte ich zu Mutter.

Ich stellte eine Matte auf den Boden, nahm sie bei der Hand und wir fingen wieder an.

Vater war bodenständiger, er war unruhig, fast könnte man sagen, panisch, ging von Küche zu Stube, Stube zu Zimmer, zum Bad.

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14 Tage biel/bienne Literatur

Erika Do Nascimento – 14 Tage

Der Krieg schmeckt bitter wie Blutorangen. Ich kann nie wieder Blutorangen essen. Als ich ihn schmeckte, wünschte ich mir, ich hätte keinen Geschmackssinn.

Der Krieg lag mir sofort im Magen, wie Fondue.

Vor dem Krieg hörte ich immer nur Musik. Immer war etwas in meinem Kopf, ein Summen, das mich begleitete.

Es hörte auf.

Mein Kopf wurde leer.

Bis ich wieder eine Melodie aufnehmen konnte,

oder mich an einen Songtext erinnern können würde,

würde es dauern.

Es würde Strassen, Landschaften, Grenzen und Häuser dauern.

Als ich wieder bei mir war, nach den Mantras, nahm ich das Gerät, indem ich eine Bedrohung gesehen hatte und schrieb all meinen Freunden eine Nachricht. Fragte wie es ihnen ging, ob sie den gefrässigen Bären gesehen hätten, was sie machten, was sie fühlten, ob sie bleiben würden, oder ob sie gehen würden.

Bei einigen dauerte es keine Stunde, sie packten und gingen.

Sie wussten, was sie tun würden.

Andere würden die Heimat nie verlassen, weder wollen noch können.

Doch gab es welche, die sich Zeit nahmen und überlegten.

Zeitverschwendung ist der grösste Fehler der Menschheit, glaube ich.

Doch ich, ich wusste auch nicht, was ich machen sollte.

Ich wünschte, ich könnte ins Kloster gehen und eine Woche lang schweigen.

Wie damals mit Mutter, als ich Christin war und sie mich zu einer Buddhistin machte.

Im Kloster vor langer Zeit, als alle schwiegen und ich meinen Gedanken ordnen konnte.

Da dies keine Option war, machte ich Google Apps auf und dachte nach. Wohin?

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28 Wochen biel/bienne Literatur

Erika Do Nascimento – 28 Wochen

Mein Papagei ist tot. Zwei Wochen, nachdem ich gegangen bin, hat er es aufgegeben. Er wollte weder essen noch trinken und eines Tages fiel er auf den Boden seines Käfigs, um nie wieder ein Wort zu sprechen. Wir hatten ihn zu Grossmutter gebracht, die nicht meditierte und auch nicht wollte, die zu viel Zeitung las und wie eine Zeitung berichtete.

Vielleicht las sie ihm zu viel Zeitung vor.

Vater hatte Augen, wie die Vorkriegszeiten, grün waren sie. Diese Augen von frisch gemähten Wiesen im Sommer. Mit diesen Augen blieb er zurück. Er erkrankte.

Dann gingen wir in überfüllten Bussen und Zügen, wo alle etwas zu erzählen hatten. Wo alle reden wollten. Wo die Technik nichts mehr bedeutete, wo Jugendliche den Zügen hinterherrannten, wenn sie hielten, um uns Wasserflaschen zu schenken, oder Essen, oder Spielzeuge, sogar Schokolade, als wir zuerst durch alle Länder der Welt, nach Wien, dann zurück auf Polen gingen.

Ein Freiwilliger holte uns an der Grenze zu Polen ab, als meine kleine Schwester Fieber hatte und wir nicht rüber konnten. Wir kannten ihn nicht, vertrauten ihm jedoch. Er kam, nahm uns ins Auto, fuhr los. Ich, Mama und meine kleine Schwester. Vater war krank. Vater war geblieben, schaute aus dem Fenster, mit den Augen von Pflanzen im Wasser.

Der Mann hat meine kleine Schwester medizinisch versorgt.

Diese Geschichte erzählen sie nicht, oder? Jetzt wissen sie es auch.

Die Menschen waren freundlich.

Das schockierte mich.

Auch andere, die freundlich waren und Freundlichkeiten zurückbekamen, waren verdutzt.

Unsere Mantras, haben vielleicht doch was gebracht, sagte ich zu Mutter.

Mutter lächelte weisse Zähne aus dem Mund. Und ich war beruhigt, dass die Gewalt uns nicht ansteckte. Oder sie drang nicht in mich, in die Leute in meiner Umgebung, ein.

Vielleicht sind wir einfach genug früh gegangen.

Seitdem glaube ich fester an Menschen.

Schon lange träumte ich von Paris. Im Bus, im Zug, im Auto, in der Wartezeit, träumte ich von Paris. Als wir gehen mussten, wünschte ich, wir würden genau DORTHIN ziehen. Ich wollte eine grosse Künstlerin werden. Mutter sagte dann: Du wirst verhungern! Eine Künstlerin in der Ukraine hungert, sagte sie. Darum wollte ich eine Künstlerin in Paris sein.

Nach einem endlosen hin und her (Polen, Wien, Ukraine, zurück und fort) wurden wir der Schweiz zugeteilt.

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56 Wochen biel/bienne Literatur

Erika Do Nascimento – 56 Wochen

Die Schweiz ist grün und sauber. Können sie mir das erklären?

Der Vater kam auch mit. Nach einem ewigen hin und her.

Er, mit den Augen von Moos im Frühling.

Bei uns im Flüchtlingslager gibt es eine Mülltrennung. Und es gibt einen Koch. Der Koch ist nett, er überraschte mich mit dem Essen meiner Grossmutter.

Da war ich glücklich und hörte wieder Musik.

Der Krieg kroch für eine kurze Zeit aus meinem Magen.

Ich stelle mir meine Grossmutter als Flüchtlingslager-Köchin vor. Mit einer Schürze, mit Messer in der Hand, schnipselnd, für andere. Sie hätte immer den Fernseher an, beim Kochen, mit ihren Nachrichten. Nein, das passt nicht.

Aber der Koch, der unterhaltet sich mit mir, so wie die Menschen aus anderen Ländern, die hier sind. Auch aus Kriegsgebieten. Sie wirken optimistischer als meine Familie. Sie fragen, mich, ob ich mit ihnen in die saubere Stadt komme.

Das ist schön! Ich fühle ich mich nicht allein.

Ich bin in einem Museum in Lausanne. Die Welt ist in verschiedenen Formen von Licht gezeichnet. Lichter, Streifen, Flächen, Farbflächen, Punkte, geometrische Unterteilungen, schwarzweisse Fotografien, Zeichen, Buchstaben, Säulen, Wölbungen, Falten, Reflexionen, Spiegelungen,

Beschleunigung, Fortschritt.

Da will ich hin!

Was ich in der Schweiz lernte: Nicht jeder Flüchtling hat das gleiche Glück, wie ich, auf nette Menschen zu treffen. Einige treffen auf Menschen, die uns hier nicht wollen. Wissen diese Menschen, die uns hier nicht wollen, dass es Zufall ist, wo man geboren wird? Denken sie nicht, dass sie jemals, in eine solche Situation geraten könnten?

Eine Situation, in der das Licht ausgeht, weil eine Bombe, die Elektrizität zerstört hat.

Ich jedoch hatte Glück, gute Menschen zu treffen.

Ich schaue ein Bild von Pinguinen an. Ich frage mich, wieso sind wir keine Zügelpinguine? Nackt, nebeneinander, liegend, in den Flächen der Erde verteilt, ausrutschend, badend, der Natur gerecht.

Dinge, die mir aufgefallen sind:

Das Wasser ist in der Schweiz gut, es schmeckt nach Wasser.

Die Luftschutzbunker sind gut, man kann sich darin verstecken.

Fondue ist fein, mit Fleisch schmeckts besser.

Die Züge sind prima. Schöne Aussichten, keine Verspätungen.

Die Schweiz ist ein Büro.

Ich freute mich, als sie mich einluden, um über mich und den Bären zu sprechen. Ich trank Kaffee, die Sonne schien. In der Küche roch es nach Gewürzen, eines Landes, in welches ich die Füsse nie gesetzt habe.

Sie fragten mich, willst du teilnehmen? Willst du ein Hörspiel werden, willst du eine Geschichte werden, willst du irgendwas werden? Obwohl ich fast keine Zeit habe, da ich drei Sprachen lerne: Tibetisch, Deutsch, Französisch und eine verlerne: Russisch, sagte ich zu. Ich freute mich, mich für Kunst auszustellen.

Und jetzt werde ich angestarrt, angestarrt von einem Mann, der alles aufnimmt, was ich sage, von diesem anderen, der mir alles auf Ukrainisch übersetzt und von dieser Frau, die mir die Fragen stellt. Alles, weil ich Teil der Geschichte geworden bin, der aktuellen, grösseren Geschichte.

Ich bin oft Ausstellobjekt, auch wenn es kein Kunstprojekt ist. Oft schauen mir die Leute dabei zu, wenn sie über den Krieg erfahren, wie ich irgendwas Belangloses mache.

Zum Beispiel, wie ich in mein iPhone Nachrichten eintippe.

Als wäre ich der Krieg. Als wäre der Krieg meine Geschichte.

Dann fragen sie sich, wer ich war, wer ich bin und wie ich lebe, wer ich sein werde.

Ich vermisse jemanden, sage ich, ich bin jemand, wissen sie?

Ich vermisse einen Jungen, den ich seit fünf Jahren und 2252 Kilometer liebe, der nach Deutschland geflüchtet ist und dort lebt.

Sie fragen mich, was wäre ein grossartiges Geschenk für dich? Und ich sage, ein Buch über Art Brut.

Hast du Geld verloren? Fragen Sie. 20 Franken sage ich. Ich komme nicht aus einer reichen Familie, die Wohnung war gemietet, die Möbel von meinen Eltern, die Kleider habe ich mitgenommen.

Den Tanzstiefel zurückgelassen, das Tanzen auch.

Für lange Zeit habe ich nur die Füsse mitgetragen.

Jetzt tanze ich wieder.

Ich singe sogar wieder in der Dusche. I will always love you. Von Whitney Houston.

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56 Monate biel/bienne Literatur

Erika Do Nascimento – 56 Monate

Sie fragen mich, wie es gut kommen könnte. Eine Szene.

Und sie fragen mich, wie es schlecht kommen könnte. Eine Szene bitte.

Schlecht: Es ist schon schlecht gekommen. Noch schlechter wäre, Putin gewinnt, wir werden alle zu Putins gemacht.

Gut: Ich habe eine Wohnung am Genfersee, oder Zürichsee, das Haus ist voller Kunst, von mir, von anderen, ich sitze auf dem Balkon, trinke einen schwarzen Kaffee und schaue auf die Enten, die friedlich auf dem Wasser treiben.

Sie haben nichts zu tun.

Der Krieg liegt hinter uns. Hinter mir.

Mein Land liegt vor mir.

Ich spreche eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Sprachen.

Die Trümmer können wiederhergestellt werden.

Die Leichen nicht wiederbelebt.

Putin, sitzt in einem Käfig, wird durch die Ukraine reisen und dazu gezwungen, ukrainische Poesie vorzulesen und Hopak zu tanzen.

Niemand wird ihn herauslassen, bis das Land wieder aufgebaut ist.

Doch die Leichen werden nicht durch Mantras wiederbelebt.

Die Körper müssen erst noch begraben werden.

Seine Billionen muss er für die Restaurierung des Landes hinblättern.

In der Ukraine wird es nicht an neuen Technologien fehlen, oder es werden neue Technologien benutzt, um dem Land, wieder einen Körper zu geben, um den Müll des Krieges zu entsorgen, oder recyclen?

Ich werde zuständig sein für die Kultur, ich werde die alte Kultur wiederbeleben und neue fördern. Ich werde der Welt davon erzählen, wie reich unsere Kultur ist.

Aber ich werde weiterhin rezitieren. Vielleicht hilft es.

Was ich sicher weiss, ist, ich werde immer noch Elisa Zarechnaya heissen.

Ich werde nicht mehr siebzehn sein. Sondern eine Frau. Selbstbewusst in meiner eigenen Wohnung in Genf, dank der Erziehung meiner Eltern, selbstständig.

Elisa wird ausgebildete Künstlerin sein, die kuratiert.

Der Krieg wird nur noch eine graue Wolke sein, die vorbeigezogen ist.

Die Ente wird im See treiben, mit der Sonne auf den Federn.

Putin wird im Käfig ukrainische Gedichte rezitieren.

Er wird im Käfig Hopak tanzen.

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7 Minuten biel/bienne Literatur

Garsam Marsia – 7 Minuten

Mein Name ist Olha. Ich habe mehr als 18 Jahre in Kiew gelebt.

Nein, ich habe nie geboxt, aber als Kind habe ich Kampfsport gemacht. Aber ich weiss nicht mehr, wen ich verdroschen habe.

Ja, ich singe, während ich unter der Dusche stehe.

Soll ich singen? Ja, bitte singen.

Singt. „Entschuldige, falls ich dir wieder Schmerzen bringe …“

„Nein, du kannst wirklich singen, wir haben Zeit, ich nehme das auf.“

„Entschuldige, falls meine Träume so traurig sind … Es tut mir so leid, das war der Text.“

„Aha, das wusste ich nicht.“

„Ja … Es tut mir leid, wenn ich dir wieder wehtue. Ich mache dich traurig! Und es tut mir leid, dass ich dich schon wieder traurig mache.“

„War das auch noch der Text?“

„Ja.“

Es war so offensichtlich, dass der Krieg jederzeit beginnen könnte. Schon seit 2014 herrschte eigentlich Krieg in schleppender Form. Alle haben darüber geredet und nachgedacht, aber aus irgendeinem Grund wollte niemand daran glauben, dass der Krieg wieder richtig losgehen könnte. Er war ja gar nicht zu Ende. War er zu Ende?

Es gibt keine Formen oder Farben, die Kriege richtig darstellen können. Es ist eine Art Schlamm, eine Art Gelee, etwas Formloses, Dunkles, Unbekanntes, und es hat überhaupt keine Struktur. Krieg ist etwas Strukturloses. Ja, aber gleichzeitig ist er ja eine unglaubliche Organisationsbemühung. Wenn man sich überlegt, wie viel Energie in die ganze Logistik gesteckt wird, und wenn man das zum Beispiel mit der Energie vergleicht, die vorher nicht in die Bildung, nicht in die Gleichberechtigung, nicht in die Bekämpfung der Korruption gesteckt wurde, ist das schon verrückt.

Spätestens, als alle Flüge gestrichen wurden und sämtliche westlichen Botschaften schon vor den Weihnachtsferien schlossen, wurde es offensichtlich, dass sich etwas Schlimmes zusammenbraute.

Eine Woche vor dem Krieg erhielt mein Mann einen Anruf von seinem Chef, der ihm einen Umzug nach Lemberg und dann nach Budapest nahelegte. Warum wusste der Chef so gut Bescheid? Welcher Geheimdienst hat ihn informiert?

Wir weigerten uns! Wir werden nirgendwohin gehen. Wir gingen dann doch. Es gab von einem Tag auf den anderen keine Flüge mehr.

Ich fing an, zu weinen. Ich habe den ganzen Tag geweint.

Meine Mutter weinte nicht. Sie sagte nur: „Natürlich, Olechka, geh. Mach dir keine Sorgen um uns, alles wird gut.“

Ich glaube nicht, dass meine Mutter das ernst meinte.

Ich weinte noch mehr. Einen halben Tag lang, weil es mir vorkam, als würde ich alle verraten. Aber meine Mutter sagte nur immer wieder: „Mach dir keine Sorgen um uns, alles wird gut.“

Ich wollte nicht weg. Der Chef meines Mannes rief wieder an: „In Budapest wartet eine Wohnung auf dich!“

Warum wusste der Chef so gut Bescheid? Welcher Geheimdienst hat ihn informiert? Woher hatte die Firma das Geld?

Wir fuhren mit dem Auto nach Budapest, damit wir mit dem Auto auch wieder zurückkehren könnten. Das Auto wurde dann gestohlen, wir wissen nicht, wo es jetzt ist. Wir sind nie wieder zurückgekehrt. Das Auto wurde gestohlen. Das Auto ist weg.

Ich konnte nichts tun. Das Einzige, das mich dazu brachte, etwas zu tun, war mein Kind. Ich verbrachte die ersten drei Tage komplett im Internet. Cherson wurde besetzt, da leben meine Eltern, meine Schwester, meine Grossmutter, der Grossvater, der Onkel, die Cousins, die Schwester. Meine ganze Familie.

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14 Tage biel/bienne Literatur

Garsam Marsia – 14 Tage

Ich möchte allfällige Geschenke selbst aussuchen. Ich bin mit zunehmendem Alter praktischer geworden. Ich weiss nicht, Geschenke?

„Schuld“ ist etwas für religiöse Menschen. „Verantwortung“ wäre für die anderen.

Wer trägt die Schuld oder die Verantwortung an diesem Krieg? 40 % Russland, 30 % die Ukraine, 30 % Europa oder 100 % Russland? Wieso soll ich solche Gedanken haben? Ist das gut, wenn man versucht, aus einer Tragödie einen Prozentkuchen zu machen? Ich kann es schon machen, das alles so einteilen, aber wozu? Warum?

Benutzen wir Schuld und Verantwortung wirklich als Synonyme?

Als der Krieg begann, war für mich offensichtlich, dass zu 100 % Russland schuld am Krieg war. Russland hat die Ukraine angegriffen: 100 %.

Und dann, später, wenn man noch mal darüber nachdenkt, wird es nicht klarer. Aber es wird einem immer wieder gesagt: 100 %.

Und man fängt an, diese Werbung für eine bestimmte Sichtweise zu akzeptieren.

Ich werde in die Geschichte eingehen, wenn ich das nicht tue. Okay, ich werde es nicht tun. Ich werde die Werbebotschaft etwas abändern.

Ich kenne mich mit Geopolitik zu wenig aus.

Für mich bleibt Russland der offensichtlich Schuldige dieses Krieges. Zu 80 %.

Ich denke, die Ukraine ist auch schuld.

Ich werde aber nicht näher darauf eingehen.

Es gibt auch die Meinung, dass die Vereinigten Staaten Interesse an diesem Krieg haben.

Ich bin kein offensichtlicher Anhänger dieser Hypothese. Für mich sind die Vereinigten Staaten das Land, das Waffen liefert, damit die Ukraine ihr Territorium verteidigen und schützen kann.

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28 Wochen biel/bienne Literatur

Garsam Marsia – 28 Wochen

Identität selbst kann tödlich sein. Wie klingt das für dich: Kann das sein? Kann man an Identität sterben? Kannst du mir das erklären?

Du kannst einem Kind keinen sicheren Ort garantieren. Du bist nie sicher, dass morgen nicht eine Granate oder etwas anderes in deine Wohnung fliegt. Und weil du eine bestimmte Identität hast, möchtest du trotz der Gefahren an diesem Ort bleiben.

Es gibt viele Städte, die in Ruinen verwandelt sind. Unsere Wohnung ist zurzeit noch intakt. Natürlich schlugen Bomben in der Nähe unserer Wohnung ein. Ich muss einfach sicher sein, dass keine Bombe mehr auf mein Kind fallen wird. Das reicht mir, um zurückzukehren. Ich werde also meine Identität vergessen, bis es sicher ist.

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56 Wochen biel/bienne Literatur

Garsam Marsia – 56 Wochen

Der Krieg endet so schnell wie möglich. Unser Land wird wieder aufgebaut, die Städte werden alle wieder aufgebaut.

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56 Monate biel/bienne Literatur

Garsam Marsia – 56 Monate

Ein Kind wird dann originell, wenn es möglichst nicht erzogen wird. Das wäre das Ideal.

Ich glaube, du wurdest überhaupt nicht erzogen, so wie du hier dieses Interview mit mir machst.

Man sollte einem Kind nur helfen und es möglichst wenig stören. Keine Erziehung ist besser.

Keine Erziehung ist immer besser.

Ich bin hier bei dir zu Besuch und ich sehe sofort: Du hast nicht die geringste Erziehung erhalten. Das zeigt sich jetzt auch im Gespräch.

Das beste Kriegsszenario für mich ist der Sieg der Ukraine.

Das heisst, wir behalten die Grenzen, wie sie im Jahr 1990 waren. Leider ist es unmöglich, Menschen wieder aufzubauen, die gefallen sind.

In meinen positivsten Träumen sehe ich, dass sich die Ukraine reformiert, neu definiert, neu erfindet …

Das zweitbeste Kriegsszenario: Alles endet so, wie es vor 2014 war.

Das schlechteste Kriegsszenario: Der Krieg dauert länger als drei Jahre. Und ich kann nicht in Worte fassen, wie alles endet, weil ich Angst habe, es in Worte zu fassen.

Ich habe Angst, die Verbindung mit der Erde, mit den Wurzeln, mit den Vorfahren zu verlieren.

Wenn ich diese Verwurzelung verliere, dann verliere ich alles, was ich liebe.

Oder wir machen ein Disneyland. Die Volksrepublik Lugansk und die Volksrepublik Donezk werden zum Disneyland erklärt.

Und damit es fair ist, tun wir die Autonome Republik Krim auch noch dazu. Der Rest bleibt auf der einen Seite Ukraine, auf der anderen Seite Russland.

Noch ein fantastisches Szenario. Die Ukraine wird ein Paradies auf Erden. Ein Ort zum Krafttanken, ein Ort, wo man sich inspirieren lassen kann, ein Ort, den man besucht, um sich selbst besser kennenzulernen, um etwas Einzigartiges in sich selbst zu entdecken, ein Ort der Kraft, an dem sich alle verborgenen Möglichkeiten eines Menschen offenbaren.

Ich werde auch dich gern in dieser Ukraine wiedertreffen.

In der Ukraine im Jahr 2026 werde ich mich immer noch Olha nennen. Ich werde immer noch Ukrainisch sprechen. Ich würde gern weiterhin Kunst machen. Kunsttherapie. Recycling-Design. Dies ist die Richtung, die ich vor dem Krieg in der Ukraine zu entwickeln begann. Dekorationen herstellen aus gebrauchten Dingen. Und ich würde weiter an der Transformation der Ukraine arbeiten, die dringend stattfinden muss. Die Nation muss wachsen, reifen, sich verstehen lernen, sich erkennen.

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7 Minuten biel/bienne Literatur

Sagal Maj Comafai – 7 Minuten

Fragebogen

Leute fragen mich: Bist du aufgewacht von den Sirenen, als der Krieg anfing? Bist du aufgewacht vom Nachbar, der fluchte? Bist du aufgewacht von deiner Freundin, die anrief? Bist du aufgewacht von Päng, Päng, Boom, Boom? Bist du aufgewacht von Newsapp Sondermeldung? Bist du aufgewacht von Beton und Glas, die dir um die Ohren flogen? Oder musstest du deine Eltern wecken und ihnen sagen: P**** dieses Schwein, was für ein verdammter Idiot – wacht auf, schnell, der Krieg hat vor 7 Minuten begonnen. 

Jetzt

Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt, endlich nach Paris zu gehen. In die Ferne und Kunst machen. Mutter sagt: Geh, hier hast du keine Zukunft. Jetzt packe ich den Notfallkoffer, wir haben Verwandte in Polen. Was wird von meinem Land übrig bleiben? Eine Farbe? Ein dunkles Schwarz mit schwerem Blau gemischt?

Betondecke

Grossmutter weckt mich, ich wecke meine Eltern: Wacht auf, der Krieg ist da. Wie lange brauchen die Bomber bis sie über unserem Dorf sind? Wie sehr schmerzt es, wenn mir die Betondecke auf den Kopf fällt? Liege ich dann noch da, unter den Trümmern? Wie lange?

Wifi

Das Wichtigste bei Kriegsbeginn ist die Internetverbindung. Aber ich will nicht auf den Handybildschirm schauen. Ich will nicht wissen, welche Städte bombardiert wurden und welche als nächstes dran sind. Ich will nicht wissen, ob Strassen und Tankstellen zerbombt wurden und ob man vielleicht gar nicht mehr wegkommt. Ich will nicht wissen, ob es jemanden von meinen Freunden oder Verwandten getroffen hat. Oder wie lange der Krieg jetzt schon dauert.

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14 Tage biel/bienne Literatur

Sagal Maj Comafai – 14 Tage

Sechs Mal umsteigen bis nach Aarau

Nehmen Sie als erstes den Bus Linie 5 von Odessa nach Palanca, Moldau. Dort steigen Sie auf den Sonderbus S1 nach Chișinău um. Aufgrund erhöhter Flüchtlingsströme müssen Sie mit einer Verspätung von mehreren Tagen rechnen. Wählen Sie in Chișinău die gewünschte Busverbindung nach Europa (Hinweis: Der nächste freie Bus fährt nach Bukarest, Rumänien). Beeilen Sie sich: Ihre Anschlussverbindung Bukarest – Wien wartet auf Sie. Mit dem Zug kommen Sie anschliessend nach Zürich HB, auf Gleis 32 fährt dort der IC5 nach Aarau. Ausnahmsweise ist die Mitnahme von jeglichen Haustieren erlaubt. 

Meditation

Mutter sagt, ich solle meditieren, um den Krieg zu beenden. Die Leute haben vollständig den Verstand verloren, das Einzige was jetzt noch helfen könnte, sind Mantras. Vielleicht hält das die Russen davon ab, in unser Dorf einzumarschieren. Ich meditiere eine ganze Stunde, Mutter flüstert Gebete. 

Papagei

Als ich mit meiner Mutter und kleinen Schwester nach Polen gehe, gebe ich Grossmutter meinen Papagei. Nach zwei Wochen stirbt er. Er konnte auch sprechen.

Umschulung

Irgendwann las ich in der Zeitung: Fachkräftemangel in der Schweiz. 14 Tage nach Kriegsausbruch bin ich in Aarau, um Filme zu drehen. Das Amt meinte: Fachkräftemangel, nicht Flüchtlingsmangel, verstehen Sie? Aber Umschulung ist kein Problem. UM-SCHU-LUNG. Verstehen? Dort waren Sie: Drehbuchautor und Regisseur. Hier: Flüchtling. Status S. Umschulung kein Problem. 

Karma

Ich spreche kein Russisch mehr, auf Ukrainisch kann man auch gut fluchen. Damit habe ich aber aufgehört: Das ist schlecht fürs Karma. 

Crash Cours Menschlichkeit

Als wir durch Ungarn fahren, hält der Zug immer wieder und es kommen Menschen rein. Sie rufen: „Ukraine, Ukraine!“ und verteilen Essen, Trinken und Spielzeug für die Kinder. In der Schweiz komme ich erst in einem Bombenschutzraum unter, später bei einer Familie. Wir feiern gemeinsam Feste und ich lerne allmählich die Schweizer Kultur kennen.

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28 Wochen biel/bienne Literatur

Sagal Maj Comafai – 28 Wochen

Wasserqualität: Sehr gut

Ich vermisse kein Gericht aus der Heimat, kein Bier, keine Gewürze, Düfte, die nervende Nachbarskatze, die alte Nachbarin schon gar nicht, die Kirche nicht, meine religiöse Grossmutter nicht, das dreckige Hahnenwasser, hier ist das Leitungswasser richtig gut, was soll ich hier in der Schweiz in den Türkenladen ukrainisches Bier kaufen, was reden Sie da für einen Unsinn, ich trinke Schweizer Bier, das ist super, mein Sohn und meine Frau sind noch in Odessa, was ich vermisse ist der gute Fisch, frisch aus dem Meer.

Küsse wie Haselnüsse

Ich habe schon immer mit heissen Küssen gegeizt, war richtig sparsam. Stattdessen habe ich meine Lippen so geformt: Sehen Sie, so. Als würde ich mit meinen Lippen eine kleine Haselnuss halten. So habe ich immer geküsst, ich weiss nicht wieso. In diesen 28 Wochen in der Schweiz habe ich nicht weniger geküsst, aber auch nicht mehr.

Geografie

Ich wäre gerne in Polen und der Ukraine gleichzeitig. In Polen werden wir nicht bombardiert, in der Ukraine verstehen wir dafür die Sprache. Es gibt diese Geschichte: Ein Schüler meditiert, bis sich ein Ameisenhügel um ihn gebildet hat. Er fragt seinen Lehrer: Wie lange muss ich noch meditieren, bis ich zum Buddha werde? Der Lehrer meint: Für jedes Blatt im Wald musst du ein Leben lang meditieren. Der Schüler antwortet erfreut: Was, nur? Und er steigt diesen Moment ins Nirvana. Wo wäre ich jetzt, hätte ich 28 Wochen lang meditiert?

Apéro Riche

Ich habe mir drei Kochbücher gekauft und koche in 28 Wochen 28 Gerichte: Capuns, Maluns, Suure Mocke, Älplermagrone, Birchermüesli, Raclette, Fondue, Spätzli, Nudle mit Butter und Aromat, Ei mit Aromat, Apéro Riche, Lauch-Späck-Weihe, Nussturte, Öpfelchueche, Fleisch i bruuner Sose, Herdöfpelsalat, Speck-Zopf, Nudelsalat, Cervelat, Gschwellti, Chalbsragout, Rindsschnitzel mit Pfeffrrahmsose, Hack-Roulade, Zibelechueche, Bratwurst mit Zwiblesosse, Vorässe, Fleischvogel, Riz Casimir. 

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56 Wochen biel/bienne Literatur

Sagal Maj Comafai – 56 Wochen

Identität

Ich werde gefragt, wie viel Prozent ich mich als Ukrainer fühle. 100%? 80%? 70, 10%? Hat sich daran etwas geändert, 1 Jahr nach dem Krieg? Keine Ahnung. Ich mag amerikanisches Kino, japanische Musik, Schweizer Bier und ukrainische Küche. Doppelbürgerschaft gibt es doch in der Schweiz? Ich brauche Vierfachbürgerschaft oder noch besser: Vielfachbürgerschaft. 

Fondue

Mein Lieblingsgericht 1 Jahr nach dem Krieg: Fondue. Das macht so richtig satt. Man spürt das Gericht im Magen. Der Käse ist im Körper physisch anwesend. Noch besser ist Fondue mit Fleisch. Das Fleisch liegt im Magen wie ein müder Hund, dem man zufrieden mit der Hand über den Kopf streicht. 

Paris

Grossmutter ist jetzt in Paris, liest täglich Zeitung und ist wütend.

Crêpes Gourmandes

Ich habe nach 1 Jahr in der Schweiz gelernt: Es ist nicht so wichtig, was man isst. Viel wichtiger ist es, mit wem man isst. Oder vielleicht ist mir das einfach nochmals klar geworden. Auch, dass das Essen hier doch abwechslungsreicher ist, als gedacht. Die italienischen und französischen Einflüsse habe ich anfangs versucht auszuklammern. In Lausanne gibt es zum Beispiel die besten Crêpes Gourmandes und die Menschen dort sind auch nett.

Heimat

Meine Freunde suche ich mir inzwischen nicht mehr selbst aus: Ich lebe im Flüchtlingslager. Über Kunst kann ich mich hier mit niemandem austauschen, aber der Koch ist nett. Eines Abends kocht er mit viel Liebe den Borschtsch meiner Grossmutter, den ich so sehr vermisst habe. Mit roter Beete, Kabis, Kartoffeln, Rindfleisch und Karotten.

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56 Monate biel/bienne Literatur

Sagal Maj Comafai – 56 Monate

Prognose

Eines Tages: Der Kriegt hört einfach auf. Ein paar Kilometer hier und da lässt sich diskutieren, solange kein Moskauer Königreich bis Gott weiss wo. Der Krieg ist vorbei. Keine Menschen mehr, die sterben. Infrastruktur lässt sich wieder neu bauen. Besser als vorher. Neue Technologien. Die toten Menschen bleiben tot. Der wirtschaftliche Schaden ist halt wirtschaftlicher Schaden, tote Menschen sind tote Menschen. Aber es hört auf, einfach so. 56 Monate nach Kriegsbeginn. 

High Tech

Veganes Essen und diese elektronischen Staubsauger, die selbstständig alles aufräumen: 56 Monate nach Kriegsbeginn haben wir die vielleicht auch in der Ukraine. Ich bin jedenfalls in Lausanne oder Genf, habe eine Schalplattensammlung, afrikanische Kunst und ganz viel Bücher.

Multilingual

56 Monate nach Kriegsbeginn erhalte ich einen Brief vom Amt: Herzlichen Glückwunsch, Sie wurden einem Sprachkurz zugeteilt! Sie dürfen jetzt Deutsch lernen! Was das Amt aber nicht weiss: Seit letzter Woche habe ich eines dieser neuen Hörgeräte, das mit dem Internet verbunden ist und mittels ChatGPT alles live in beide Richtungen übersetzt. Seitdem gebe ich Touristenführungen. Mein Fachgebiet: Sakralbauten und Zwingli. Zum Schluss empfehle ich den chinesischen oder indischen Touristen eine gute Beiz, wo es feines Züri Geschnetzeltes oder Fondue Chinoise gibt. 

Kunstprojekt

Ich bin jetzt ein Kunstprojekt: Menschen nehmen mich auf, schneiden meine Stimme zu Hörspielen. Ich habe meine menschliche Form inzwischen abgelegt: Jetzt existiere ich als Vase, die falsch rum auf dem Tisch steht. Rosa. Ich bin ein sanftes Rosa, fast wie eine Pfirsichfarbe.