Basel Visual Art 06.05.2023
Collaboration
Anna Savitska / Thomas Zollinger
28 Wochen
Basel Visual Art 06.05.2023
Collaboration
Anna Savitska / Thomas Zollinger
Anna Zakharova, Olga Kutsan and Choir – 28 Wochen
DE
28 Wochen – Wie man dich nicht liebt, mein Kiew! Die Hauptstadt der Ukraine ist nicht gefallen, hat nicht kapituliert und dem russischen Angriff standgehalten. Es wurde von Bucha, Irpin, Borodyanka, Wyschhorod und anderen Städten und Gemeinden unterstützt. Kiew ist das Herz und die Seele der Ukraine, die unter ständigen Angriffen von Nichtmenschen lebt und versucht zu überleben.
UKR
28 тижнів – Як тебе не любити Києві мій! Столиця України не впала, не здалась, витримала російську навалу. За неї стояли Буча, Ірпінь, Бородянка, Вишгород та інші міста та містечка. Київ – серце та душа України, яка живе під постійними атаками нелюдів та намагається вистояти.
Können wir nicht einfach ein freundliches Gespräch führen? Mir fehlt der Austausch. Du stellst mir immer nur Fragen zum Krieg. Ich möchte einfach nur über Blumen, über die Natur, über Bäume reden, über alles ausser den Krieg. Erzähl doch etwas aus der Primarschule von einem Mädchen, das du mochtest. Bitte erzähl etwas aus deinem behüteten, langweiligen Leben.
Ich brauche das. Jemand, der völlig naiv von seiner Kindheit in einem vom Krieg unberührten Land erzählt. Von einem Land, in dem es nie einen Krieg gegeben hat.
Also erzähle ich dir etwas von Monica Rocco. Sie kam in der dritten Klasse der Grundschule neu in unsere Klasse. Sie kam aus Sizilien. Der Lehrer setzte uns auf dieselbe Bank, er traute mir die nötige integrative Neugierde zu. Monica konnte unglaublich gut zeichnen. Ich sass einfach nur noch neben ihr und sie zeichnete für mich. Und ich schaute Monica an und dann zum Fenster raus und ab und zu schrieb ich ein deutsches Wort in ihre Zeichnung hinein. Sie hatte ganz lockiges Haar, kastanienfarbig oder schwarz. Ich weiss nicht mehr, wie lange das gedauert hat, viele Monate. Ich lernte von Monica zeichnen, ganz neue Landschaften, Monica lernte von mir Worte und Sätze. Vor fünf Jahren habe ich mal versucht, Monica mithilfe von Google zu finden. Ich habe nichts gefunden und wurde ganz traurig. Monica hätte mir immer Lasagne gekocht.
Mit Monica wäre ich oft schwimmen gegangen.
Monica konnte am besten zeichnen.
Sie zeichnete am liebsten Tannenwälder.
Leider ist Monica zurück nach Italien gezogen.
Ich kann für dich weinen, das kann ich gut. Ich kann einfach sieben Sekunden lang weinen. Oder vierzehn Minuten. Oder achtundzwanzig Tage. Das sind keine Emotionen mehr, das sind nur Tränen. Ich kann meine Tränen mit dir teilen, magst du das? Ich habe keine Emotionen mehr, nur noch diese Kälte habe ich im Kopf und im Herzen, höchstwahrscheinlich habe ich im Herzen und im Kopf die gleiche Kälte.
Ich dachte in erster Linie an Präsident Wolodymyr Selenskyj und an den Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj. Na ja, bis zu einem gewissen Grad war ich froh, dass diese Leute … na ja, ich weiss nicht, ehrlich gesagt, es ist alles sehr schlimm. Aber das sind die beiden, an die ich gedacht habe.
Der General sagte: „Das Wichtigste, das wir fast wie eine Religion praktizieren, ist, dass die Russen und alle anderen Feinde getötet werden müssen, einfach getötet werden müssen, und vor allem, dass wir keine Angst davor haben sollten, dies zu tun.“
Kann ich eine Pause haben?
Klar. Möchtest du etwas trinken?
Kaffee wäre gut …
Welche Territorien gehen wieder an die Ukraine zurück? Alle? Ein Teil davon? Wann? Wie sehen dann die Grenzen aus? Gibt es Gebiete, die dann niemandem mehr gehören? Sollen da dann Friedenstruppen hin?
If the Ukraine War had no content but only a form,
what form would the war have after 28 weeks ?
In your perception, which animal represents the first 28 weeks ?
Do you know a symbol for the term “war room”and find form after experienced it for 28 weeks ?
(…) I started to express good emotions from life. Not just only read the news and crying somewhere in a room where nobody can see it. (…)
Raphael Reichert – 28 Wochen
1c
Darf ich fragen, ob sich die Ereignisse seit dem 24.02.2022 in Ihren Träumen spiegeln? Wenn ja: Gibt es einen roten Faden?
2c
Können Sie den Gedanken über die Integration in der Schweiz zulassen, auch wenn der Krieg noch nicht vorbei ist?
3c
Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die sich dafür schämen oder sich selbst Vorwürfe machen, wenn sie trotz des Krieges ihren lebensbejahenden Impulsen nachgehen?
4c
Können Sie bitte beschreiben, welche Oberfläche – als würden Sie ein Material oder einen Stoff berühren – die Nachrichten aus dem Kampfgebiet für Sie haben? Welche Temperatur, welches Gefühl auf der Haut?
5c
–
6c
Glauben Sie, dass Sie anhand der Mimik und Gestik erkennen können, in welcher Gefühlslage sich eine andere Person befindet? Und wären Sie selbst in der Lage, nur mit Gestik und Mimik zu zeigen, wie es Ihnen geht?
7c
Würden Sie es bitte versuchen, anhand von Linien oder Muster spontan den Zustand zu zeichnen, in dem Sie waren, als Sie von dem Angriff erfahren haben? Wie hat sich Ihr Gefühl seitdem verändert?
Mein Papagei ist tot. Zwei Wochen, nachdem ich gegangen bin, hat er es aufgegeben. Er wollte weder essen noch trinken und eines Tages fiel er auf den Boden seines Käfigs, um nie wieder ein Wort zu sprechen. Wir hatten ihn zu Grossmutter gebracht, die nicht meditierte und auch nicht wollte, die zu viel Zeitung las und wie eine Zeitung berichtete.
Vielleicht las sie ihm zu viel Zeitung vor.
Vater hatte Augen, wie die Vorkriegszeiten, grün waren sie. Diese Augen von frisch gemähten Wiesen im Sommer. Mit diesen Augen blieb er zurück. Er erkrankte.
Dann gingen wir in überfüllten Bussen und Zügen, wo alle etwas zu erzählen hatten. Wo alle reden wollten. Wo die Technik nichts mehr bedeutete, wo Jugendliche den Zügen hinterherrannten, wenn sie hielten, um uns Wasserflaschen zu schenken, oder Essen, oder Spielzeuge, sogar Schokolade, als wir zuerst durch alle Länder der Welt, nach Wien, dann zurück auf Polen gingen.
Ein Freiwilliger holte uns an der Grenze zu Polen ab, als meine kleine Schwester Fieber hatte und wir nicht rüber konnten. Wir kannten ihn nicht, vertrauten ihm jedoch. Er kam, nahm uns ins Auto, fuhr los. Ich, Mama und meine kleine Schwester. Vater war krank. Vater war geblieben, schaute aus dem Fenster, mit den Augen von Pflanzen im Wasser.
Der Mann hat meine kleine Schwester medizinisch versorgt.
Diese Geschichte erzählen sie nicht, oder? Jetzt wissen sie es auch.
Die Menschen waren freundlich.
Das schockierte mich.
Auch andere, die freundlich waren und Freundlichkeiten zurückbekamen, waren verdutzt.
Unsere Mantras, haben vielleicht doch was gebracht, sagte ich zu Mutter.
Mutter lächelte weisse Zähne aus dem Mund. Und ich war beruhigt, dass die Gewalt uns nicht ansteckte. Oder sie drang nicht in mich, in die Leute in meiner Umgebung, ein.
Vielleicht sind wir einfach genug früh gegangen.
Seitdem glaube ich fester an Menschen.
Schon lange träumte ich von Paris. Im Bus, im Zug, im Auto, in der Wartezeit, träumte ich von Paris. Als wir gehen mussten, wünschte ich, wir würden genau DORTHIN ziehen. Ich wollte eine grosse Künstlerin werden. Mutter sagte dann: Du wirst verhungern! Eine Künstlerin in der Ukraine hungert, sagte sie. Darum wollte ich eine Künstlerin in Paris sein.
Nach einem endlosen hin und her (Polen, Wien, Ukraine, zurück und fort) wurden wir der Schweiz zugeteilt.
Identität selbst kann tödlich sein. Wie klingt das für dich: Kann das sein? Kann man an Identität sterben? Kannst du mir das erklären?
Du kannst einem Kind keinen sicheren Ort garantieren. Du bist nie sicher, dass morgen nicht eine Granate oder etwas anderes in deine Wohnung fliegt. Und weil du eine bestimmte Identität hast, möchtest du trotz der Gefahren an diesem Ort bleiben.
Es gibt viele Städte, die in Ruinen verwandelt sind. Unsere Wohnung ist zurzeit noch intakt. Natürlich schlugen Bomben in der Nähe unserer Wohnung ein. Ich muss einfach sicher sein, dass keine Bombe mehr auf mein Kind fallen wird. Das reicht mir, um zurückzukehren. Ich werde also meine Identität vergessen, bis es sicher ist.
EN
Awareness of the tragedy of what is happening and understanding that it is for a long time. Catastrophic consequences that cannot be erased
and washed away.
UKR
28 тиждень – Усвідомлення трагізму того, що відбувається та розуміння того, що це надовго. Катастрофічні наслідки, які неможливо стерти та відмити.
Jörg Köppl – 28 Wochen
DE
H. sehnt sich nach ihrer Familie und möchte, dass ihre Eltern auch in die Schweiz kommen. Aber diese entscheiden sich, in der Ukraine zu bleiben. Sie besucht einen Deutschkurs. Die Strukturierung des Alltags gibt ihr Halt.
EN
H. longs for her family and wants her parents to come to Switzerland as well. But they decide to stay in Ukraine. She attends a German course. The structuring of everyday life gives her support.
Девушка подкапывает нарцисс. Нарцисс – символ любви к себе, как правило не самой здоровой. В древнегреческом мифе Нарцисс любовался своим отражением и окаменел. Наверное, от желания увековечить свою собственную красоту. Или от эгоизма? А может, от эгоцентризма? – Сложно сказать! Зачем девушке нарцисс в разгар войны? Тем более, Нарцисс из идиллического швейцарского парка?
Мысли прерывает голос. Мужской голос. Он говорит по-швейцарски, на диалекте. Дружелюбно, вежливо, совсем не насильственно. Заученная ненасильственная коммуникация, но одновременно и ясно, и строго говорит голос. Как умеют швейцарцы, работающие в официальных учреждениях. Во всяких и разных социальных институтах. Усердно и, главное, искренне! – озабоченные, то есть, заботящиеся. Об окружающей среде:
„Извините? Позвольте мне вас прервать. Вот это вот, что вы делаете: Кто вам дал разрешение здесь копать?“
„Мы все сделаем как было.“
„Это не играет роли. Вы вторгаетесь в пространство клумбы.“
Я не реагирую. Я держу камеру. Я занят операторской работой. Девушка тоже не реагирует. Она продолжает подкапывать нарцисс, чайной ложкой. Она не отводит глаз от цветка, от нарцисса. Художественный процесс. Сбор материала о войне. Художник и муза. Или художница и музер?
„Извините! У вас есть разрешение от кантональных властей?! Или хотя бы от городских?!“
Мы не реагируем. Мы все еще демонстрируем художественный процесс. Неужели не понятно? По нам видно, что мы не отсюда, что мы иностранцы. На девушке облегающее розовое платье, оно ей к лицу. На мне женский фланелевый костюм причудливого давно устаревшего фасона. В Швейцарии мужчины так не ходят по улицам. Мы не просто иностранцы, мы странные иностранцы. Wir sind etwas spezielles.
Какое разрешение?
На что?
Кантональные власти?
Или городские?
Подкопать немного нарцисс – это не преступление. Это даже не административное правонарушение. Не хулиганство. Не саботаж левой или там зелёной морали. И что с художественной свободой, с künstlereische Freiheit, в конце-то концов?
„Я к вам обращаюсь, молодые люди! Если вы не предъявите разрешение кантональных властей, я вызову полицию. Остановитесь! Перестаньте уже здесь копать!“
Мужской силуэт прорывается в камеру. Только теперь я вижу того, кто уже добрых пять минут ко мне обращается. Мужской силуэт заслоняет девушку и нарцисс. Я вспоминаю, что девушка несовершеннолетняя. Я решаю не заедаться. Я нажимаю на „стоп“.
Мало ли чего они ещё пришьют? Эти заботящиеся о защите окружающей среды, эти озабоченные, с их ненасильственной коммуникацией. Всё-таки, не каждый здесь может быть художником. И далеко не каждый художник может делать то, что хочет, или что ему кажется важным, необходимым. Многополому или бесполому „оно“, художникО позволено, наверное, всё. Или почти всё. А то, что делаем мы, это – вторжение в пространство клумбы.
Цензура в Швейцарии такая. Она обычно левая и зеленая как зелёнка. Она повсюду и тут как тут.
Sebastian Hofmann – 28 Wochen
In cooperation with Katia and Kateryna Vysoka/
In in Kooperation mit Katia und Kateryna Vysoka/
Y співпраці з Katia та Kateryna Vysoka
expression pictures/Ausdrückbilder/виразні картинки
expression pictures/Ausdrückbilder/виразні картинки
Der Krieg hält an, die Truppen marschieren. Schreckliche Kriegsverbrechen trüben die Gedanken und überdecken die Lichtblicke, die in der Schweiz erlebt werden.
Wasserqualität: Sehr gut
Ich vermisse kein Gericht aus der Heimat, kein Bier, keine Gewürze, Düfte, die nervende Nachbarskatze, die alte Nachbarin schon gar nicht, die Kirche nicht, meine religiöse Grossmutter nicht, das dreckige Hahnenwasser, hier ist das Leitungswasser richtig gut, was soll ich hier in der Schweiz in den Türkenladen ukrainisches Bier kaufen, was reden Sie da für einen Unsinn, ich trinke Schweizer Bier, das ist super, mein Sohn und meine Frau sind noch in Odessa, was ich vermisse ist der gute Fisch, frisch aus dem Meer.
Küsse wie Haselnüsse
Ich habe schon immer mit heissen Küssen gegeizt, war richtig sparsam. Stattdessen habe ich meine Lippen so geformt: Sehen Sie, so. Als würde ich mit meinen Lippen eine kleine Haselnuss halten. So habe ich immer geküsst, ich weiss nicht wieso. In diesen 28 Wochen in der Schweiz habe ich nicht weniger geküsst, aber auch nicht mehr.
Geografie
Ich wäre gerne in Polen und der Ukraine gleichzeitig. In Polen werden wir nicht bombardiert, in der Ukraine verstehen wir dafür die Sprache. Es gibt diese Geschichte: Ein Schüler meditiert, bis sich ein Ameisenhügel um ihn gebildet hat. Er fragt seinen Lehrer: Wie lange muss ich noch meditieren, bis ich zum Buddha werde? Der Lehrer meint: Für jedes Blatt im Wald musst du ein Leben lang meditieren. Der Schüler antwortet erfreut: Was, nur? Und er steigt diesen Moment ins Nirvana. Wo wäre ich jetzt, hätte ich 28 Wochen lang meditiert?
Apéro Riche
Ich habe mir drei Kochbücher gekauft und koche in 28 Wochen 28 Gerichte: Capuns, Maluns, Suure Mocke, Älplermagrone, Birchermüesli, Raclette, Fondue, Spätzli, Nudle mit Butter und Aromat, Ei mit Aromat, Apéro Riche, Lauch-Späck-Weihe, Nussturte, Öpfelchueche, Fleisch i bruuner Sose, Herdöfpelsalat, Speck-Zopf, Nudelsalat, Cervelat, Gschwellti, Chalbsragout, Rindsschnitzel mit Pfeffrrahmsose, Hack-Roulade, Zibelechueche, Bratwurst mit Zwiblesosse, Vorässe, Fleischvogel, Riz Casimir.
Bagrat Arazyan-Natalia Zhigaylo – 28 Wochen