WAR!
7 minutes > 14 days > 28 weeks > 56 weeks, 56 months
Was ist Krieg – eine künstlerische Annäherung an das Unfassbare
Kurzbeschrieb
Der Ausbruch des Krieges gleicht einer Explosion, in der die Zeit ihren gleichmässigen Fluss verliert. „War! 7 minutes > 14 days > 28 weeks > 56 weeks, 56 months >“ soll helfen, uns in dieser verdichteten Zeit zu orientieren und die Geschehnisse in einem grossen Bogen beschreibbar zu machen. Ausserdem schafft es Begegnungen, Berührungspunkte und Beziehungen, in denen die verschiedenen Klänge, Geschichten und Bilder rund um diesen Krieg in ihrer Diversität geteilt und verarbeitet werden können.
Ausführliche Projektbeschreibung
Der Krieg in der Ukraine macht uns alle betroffen und sprachlos.
Wir verurteilen die Invasion durch Russland und sind erschüttert über das verursachte Leid. Mit grosser Sorge beobachten wir die Spannungen und Verschiebungen im globalen Machtgefüge. Im „Nebel des Krieges“ sind wir mit nicht überprüfbaren Aussagen konfrontiert. Die Gefühle kochen hoch und mit ihnen Pauschalisierung und Indifferenz sowie eine rudimentäre Russophobie, die im Keim zu eurozentrischen Tendenzen führen kann.
Das vorliegende Projekt möchte in dieser Situation Orientierung verschaffen. Der erste Teil setzt sich aus Momentaufnahmen zusammen – die ersten 7 Minuten, 14 Tage und 28 Wochen des Kriegs werden von 15 unterschiedlich betroffenen Menschen aus der Ukraine geschildert und im Dialog mit fünf visuellen Künstler:innen, fünf Autor:innen und fünf Musiker:innen zu einem polyphonen Zeitbild zusammengesetzt. Die 15 Menschen aus der Ukraine verfügen über einen S-Status in der Schweiz, wobei heute fünf von ihnen in Basel, fünf in Biel und fünf in Zürich leben. Sie können, müssen aber nicht ukrainische Kunstschaffende sein. Die künstlerischen Produkte werden der Öffentlichkeit mit verschiedenen Medien zugänglich gemacht.
Idealerweise wird die Begegnung und Befragung in 56 Wochen (1 Jahr) und 56 Monaten (5 Jahre) eine Folge erhalten – alle Protagonist:innen werden dafür wieder gesucht und befragt.
Zwecke und Motivation
„Wir können auf keinen Fall eine Übersichtsposition für uns beanspruchen:
So als könnte jeder ein Richter, jeder König in dieser Sache sein.“ Alexander Kluge, aus dem Artikel
„Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt“. Die Zeit, 5.3.2022.
So notwendig die aktuelle Parteinahme auf einer politischen und moralischen Ebene sein mag, so irritierend sind die Vereinfachungen, die uns über verschiedene Medienkanäle erreichen.
Auf der Suche nach einer adäquaten Orientierung, einem verstehenden Einordnen davon, was in der Ukraine und in Westeuropa gerade geschieht und wohin es führen wird, helfen uns Polarisierungen – die Ukraine als „armes und gutes“ Opfer und Russland als „aggressiver und böser“ Täter – nicht weiter. Stattdessen stärken sie nur neue und alte Dogmen, Klischees und Stereotypen. Es ist uns ein Anliegen, mit diesem Projekt den individuellen Stimmen in ihrer Unterschiedlichkeit und Komplexität Raum zu geben.
Die meisten Menschen, die im besetzten Donbass leben, haben stark gemischte Wurzeln, Muttersprachen und Familien. Der Krieg wurde von vielen von ihnen vorausgesehen, er wird schon seit 2014 (Annexion der Krim) geführt, also seit 8 Jahren. Die grosse Invasion Russlands zwingt nun aber Menschen in riesengrosser Zahl zur Flucht. Einige haben die Chance, in die EU und in die Schweiz zu gelangen, um einen offiziellen Schutzstatus und somit viele lokale Privilegien – vor allem im Vergleich zu den anderen Vertriebenen – zu erwerben.
Diejenigen, die einen ukrainischen Pass haben, haben „Glück“: Sie können es bis in die reiche Schweiz schaffen und haben die Chance, ein neues Leben zu beginnen, auch wenn sie ihre Familien, Freund:innen und Häuser verloren haben. Diejenigen aber, die einen russischen Pass haben, nun ja, die haben „Pech“, denn sie haben diese Chance mehrheitlich nicht: Ihnen blüht, unter der Herrschaft der russischen Propaganda und der Rückkehr der sowjetischen Verhältnisse Kartoffeln und Gemüse anzupflanzen.
Indem das Projekt verschiedene Individuen auf authentische Weise zum Wort kommen lässt, zeichnet es ein undogmatisches, differenziertes und detailreiches Bild, das uns im Rückblick hoffentlich helfen kann, das Unfassbare eines solchen Krieges besser zu verstehen.
Personenkreis
Zwei Personengruppen reflektieren gemeinsam im Dialog über die ersten 7 Minuten, die ersten 14 Tage und die ersten 28 Wochen des Krieges, der am 24. Februar 2022 in der Ukraine ausbrach. Eine Gruppe von 15 ukrainischen Geflüchteten, die sich vom 24. Februar bis maximal 24. Juli 2022 in verschiedenen ukrainischen Städten aufhielten und somit vom Krieg direkt betroffen sind, treffen in Basel, Biel und Zürich auf je fünf bildende Künstler:innen, fünf Autor:innen und fünf Musiker:innen aus der deutschsprachigen Schweiz, die Kriegsereignisse auf mehreren Kanälen und Sprachen mitverfolgten. Unter den 15 Künstler:innen gibt es ukrainische Kunstschaffende. Geflüchtete und Schweizer Künstler:innen bilden 15 Duos.
Vorgehen
Die Beteiligten finden zusammen eine künstlerische Form, um die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle der je ersten 7 Minuten, 14 Tage und 28 Wochen des Krieges zu dokumentieren. Daraus resultieren rohe O-Töne und Archiv-Materialien in Form von Interviews. Die Fragen, die den ukrainischen Geflüchteten gestellt werden, zielen auf ein „anderes Verstehen“, das über die reine Berichterstattung hinausgeht. Die möglichen Fragen werden von einer Projektgruppe entworfen und von den beteiligten Künstler:innen ergänzt; sie dienen auch dazu, dass in der direkten Begegnung und in der gemeinsamen Auseinandersetzung Materialien entstehen, die bereits künstlerische Zwischenergebnisse darstellen oder im nächsten Schritt (im Jahr 2024) zu Kunstwerken weiterentwickelt werden können.
Die Interviews, Texte, Bilder und Klangstücke werden auf einer interaktiven Website hochgeladen und präsentiert, die eine Navigation auf der Zeit-, Protagonisten- und Medien-Ebene erlaubt.
Alle am Projekt Beteiligte dürfen auf dieses Archiv zugreifen und in einem späteren Schritt (2024) verschiedene Produkte daraus entwickeln. Eine sorgfältige Diskussion zu Urheber- und Nutzungsrechten der einzelnen Beiträge, die zwischen den Interviews und der Phase des künstlerischen Schaffens geführt wird, bildet die Grundlage dieser Datenbank. So trägt diese Befragungs- und Verstehenwollensarbeit zu einer breiten gesellschaftlichen Integration und Reflexion bei. Der ganze Prozess wird von einer qualifizierten Projektgruppe, bestehend aus Illya Kirzhner (Projektleiter, Basel), Michael Stauffer (Biel) und Jörg Köppl (Zürich) begleitet.
In einem zweiten Schritt im Jahr 2024 (56 Wochen), der erst eingereicht wird, wenn der erste Schritt abgeschlossen ist, geht es darum, die transkribierten und übersetzten Materialien der geschilderten Momente und Zustände gemeinsam in Kunstprodukte zu übersetzen. Die künstlerischen Mittel dazu dienen der Historifizierung und werden folgende sein: das geschriebene und gesprochene Wort, visuelle Techniken und performativen Künste sowie Klang und Musik. Dieser künstlerische Prozess wird ebenfalls von der Projektgruppe unter der Leitung von Illya Kirzhner begleitet. Die Kunstprodukte werden auf der gleichen Webseite präsentiert.
Die Befragung soll nach 5 Jahren (56 Monaten) wiederholt werden (dritter Schritt), um eine möglichst breite und nachhaltige Perspektive auf den Krieg in der Ukraine zu schaffen.
Öffentlichkeitscharakter und Form der öffentlichen Auswertung
Um der angestrebten Vielstimmigkeit und Komplexität gerecht zu werden, bietet sich eine prozessorientierte Präsentation des Projekts als Website an, die von Besucher:innen über verschiedene Pfade erschlossen werden kann. Sie können sich entlang der Zeitebene (7 Minuten > 14 Tage > 28 Wochen > 56 Wochen, 56 Monate >) oder der medialen Ebene (von Bild zu Bild, von Klangstück zu Klangstück, von Text zum Text) bewegen, die zugrunde liegenden Interviews interaktiv aufrufen oder zu den Kontext-Autoren, ihren Kurzbiografien und Texten wechseln.
Da die Projektverantwortlichen über Erfahrung mit der Promotion von Webseiten verfügen (SEO, Social-Media-Marketing), werden sie problemlos 500-1500 unikale Webseite-Besucher (Leads) generieren können. Ausserdem sind nach der Fertigstellung der Kunstwerke Events in Kunsträumen in Basel (Ausstellung der bildenden Künstler:innen) und Zürich (Konzert) geplant, wobei die Geflüchteten und die Künstler:innen bei der Vernissage und Konzert nochmals die Möglichkeit erhalten, sich im freien Rahmen auszutauschen. Zur Vernissage bzw. zum Konzert werden auch Vertreter:innen der Öffentlichkeit eingeladen.
Das Hauptprodukt sehen wir in einer allgemein zugänglichen Sammlung von Dialogen, Bildern, Klangstücken und Texten (inklusive der Zwischenschritte), Ergebnissen von Interviews, Eckdaten etc., die in einem zweiten Schritt (2024) von allen Beteiligten unter gewissen Bedingungen weiterverarbeitet werden können. Eine sorgfältige Diskussion zu Urheber- und Nutzungsrechten der einzelnen Beiträge bildet die Grundlage dieser Weiterverarbeitung.
Projektgruppe
Illya Kirzhner, Projektkurator, Autor und Performance-Künstler in Basel
Verein Traumwelt 360°
geboren in der Ukraine 1982, jüdische Wurzeln, wohnte von 1998 bis 2010 in Deutschland (Magdeburg, Dortmund, Berlin), seit 2010 in der Schweiz (Zürich, Biel, Nidau, Basel).
Illya ist freischaffender Autor, Performer, Coach und Dolmetscher. Er studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte und Philosophie (MA, 2012), war mehrere Jahre Übersetzer und Lebensberater und ab 2013 an Performances in Zürich, Biel, Berlin und Zagreb beteiligt.
2018 BA-Abschluss Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne (Hochschule der Künste Bern). Seine Texte wurden im Radio auf SWR 2 ausgestrahlt.
Illya Kirzhner ist seit 2020 Doktorand und war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Literaturwissenschaften am Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Basel, seit 2022 interkulturelle Dolmetscher bei HEKS Linguadukt (Ukrainisch und Russisch) und anderen Vermittlungsagenturen.
Im sozio-kulturellen Kunstprojekt „War! 7 minutes > 14 days > 28 weeks > 56 weeks, 56 months“ möchte Illya untersuchen, wie existenzielle Bedrohungen, Krieg und Not auf seine Landsleute einwirken, welche Spuren sie hinterlassen und wie sie Menschen langfristig verändern.
Jörg Köppl, Komponist, Performance-Künstler in Zürich
Ensemble metanoia
Jörg Köppl lebt und arbeitet als freischaffender Künstler und Komponist in Zürich. Er interessiert sich für gesellschaftliche Synchronisationsprozesse, die er in zumeist auditiven Settings auslotet. Er konzipiert experimentelle und partizipative Radio- und Soundprojekte, die an Festivals wie der Ars Electronica, Artprospect (St. Petersburg) und Bienal de Sao Paulo oder in eigener Regie (Zürich und Kairo) aufgeführt wurden. 2011 gründete Jörg Köppl das ensemble metanoia, das aktuelle Strömungen aus der komponierten, improvisierten und elektronischen Musik aufnimmt.
In den performativen und teilweise partizipativen Produktionen des Ensembles werden die Rollenverteilungen zwischen Komposition und Interpretation sowie zwischen Darstellenden und Publikum hinterfragt. Für seine Musiktheaterproduktionen mit Rollstuhlfahrenden erhielt er 2019 den „Anerkennungspreis für kulturelle Teilhabe“ des Kantons Zürich.
Michael Stauffer, Autor, Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut, Performance-Künstler in Biel/Bienne
Produktionsfirma NOARMI GmbH
Michael Stauffer, geb. 1972, aufgewachsen in Frauenfeld, verfasst Prosa in allen Formen, die man in sieben Büchern finden kann. Er ist Autor, Regisseur und Produzent von über 25 Hörspielen, die auf SRF, WDR, BR, NDR, SWR, DLR, RAI und DLF ausgestrahlt werden.
Seit 15 Jahren begleitet Stauffer als Coach und Mentor Studierende im Bachelorstudiengang Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel sowie im Masterstudium Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern.
Er realisiert im Auftrag auch gerne grössere Kunst- und Kulturprojekte. Dazu gründete und führt er erfolgreich die Produktionsfirma Noarmi GmbH. Projekte der Noarmi GmbH sind u. a.
– Les contes de l’usine Langel, drei theatrale Führungen durch eine alte Uhrenfabrik. Funktion: Produktionsleitung, Übersetzung, Text-Coaching, Headwriting, Kommunikation, Finanzierung. Auftraggeber: Jura bernois Tourisme, Parc Régional Chasseral.
– 4-Kanal-Videoarbeit für die Ausstellung „euward8“ im Haus der Kunst in München. Funktion: Produktionsleitung, Drehbuch, Regie, Edit, Finanzierung, Verbreitung.
– Klimastreit, Hörspiel über die Klimakrise. Funktion: Produktionsleitung, Aufnahmen, Casting der Sprecher, Teilfinanzierung, Vertrieb der Lizenzen, Grobschnitt, Musikproduktion. Auftraggeber: WDR, Köln.
Mit Noëlle Revaz tritt Michael Stauffer im Duo Nomi-Nomi vielsprachig auf. Er lebt und arbeitet in der Schweiz und Europa. Er ist Vater und Bewunderer eines Sohnes.
Projektleitungsassistenz
Eleonora Petzold, Basel
Geboren im Jahr 1973 in Dnipro in der Ukraine, als zweite Tochter einer ukrainischen Mutter und eines jüdischen Vaters. Im Alter von 12 bis 18 Jahren als Tänzerin aktiv. Ihr Ziel: das Bewusstsein für das musikalische und darstellerische Kulturerbe der Ukraine zu stärken und über die Grenzen hinaus zu verbreiten.
Erste Migration im Dezember 1991 nach Israel. Arbeit als Tänzerin unter Vertrag und freiberuflich, u. a. in verschiedenen Musicals, Kindertheater-Produktionen, Improvisationen.
Zweite Migration im Oktober 1998 nach Deutschland. Ausbildung zur Heilpraktikerin.
Arbeit als Fitness-Trainerin, Körper-Therapeutin und Betreuerin für betagte Menschen mit gesundheitlichen bzw. kognitiven Einschränkungen.
Dritte Migration und aktueller Wohnsitz, sowie Arbeitsverhältnis in der Schweiz, Basel.
Sprachkenntnisse: Deutsch und Ukrainisch fliessend, Russisch als Muttersprache, gute Verständigung auf Hebräisch und Englisch.
Die Mitwirkung am War!-Projekt ist autobiografisch motiviert. Durch mehrfache Migration besteht Verständnis für die Situation der Geflüchteten. Angeborene und professionell geschulte Empathie und lösungsorientierte Kommunikation – z. B. mittels der gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg oder angelehnt an die Gesprächstherapie nach Roggers – sind nützliche Werkzeuge, die Eleonora bei der Realisierung des Projekts anwenden wird.
Natalia Zhigaylo, Genf
Geboren 1984 in Donezk in der Ukraine. Natalia studierte Biologie und schloss ihr Studium mit einem Magister-Abschluss in Physiologie ab. Bis 2014 arbeitete sie als Expertin im forensischen Forschungszentrum (NIEKTs) in Donezk. Da sie zu diesem Zeitpunkt Polizistin war und dem ukrainischen Volk einen Treueid leistete, konnte sie nicht im besetzten Gebiet bleiben und zog nach Kiew.
Ihr ganzes Leben lang malte sie und schöpfte Kraft und Inspiration aus der Kunst. Teilnahme an verschiedenen lokalen Ausstellungen. 2014 schmuggelte Natalias Grossmutter ihre Werke an einem Kontrollpunkt vorbei, damit sie nicht beschlagnahmt werden. 2022 floh sie zum zweiten Mal vor dem Krieg, um ihre kleine Kinder zu retten.
Natalia wird gleichzeitig als Kommunikationsassistentin, Flüchtling und Künstlerin am War!-Projekt teilnehmen. So beschreibt sie ihre Motivation:
„Ich möchte zurück zu mir selbst, zur Kunst. Die Kunst hat mir immer geholfen, Ängste und Stress zu überwinden, sie hat mir immer Kraft und Inspiration gegeben. Es ist sehr interessant, mit Menschen zu kommunizieren und sie zu unterstützen; vor allem meine Landsleute, die – wie ich – die Schrecken des Krieges durchgemacht haben, und ihre Geschichten in der Kunst anderer zu sehen.“